Es fällt früh auf, wer hier am Werk ist, wer dem Kater Matou seine Stimme verleiht. Da schreibt jemand mit einem scheinbar enzyklopädischen Wissen und einer ungeheuren Fähigkeit, dieses Wissen in Literatur zu verwandeln. Köhlmeiers historische Räume bilden das Grundgerüst des ganzen Unterfangens. Matou schreibt seine Memoiren selbstständig mit der Kralle auf Papier und erzählt seine sieben Leben, dessen erstes in den Nachwehen der französischen Revolution beginnt. Köhlmeier kann sich so unbeschwert durch zweihundertvierzig Jahre Menschheitsgeschichte hangeln: Ein großes Stück schriftstellerische Freiheit. Seinen Erzähler setzt er dazu als Beobachter an den Rand von fiktionalen Szenerien, die sich auf historische Ereignisse stützen. Durch Matous Augen werden wir Zeug/inn/en der Ereignisse, die zur Hinrichtung von Camille Desmoulins führten, lernen Robespierre, Danton und Saint-Just hautnah kennen. Köhlmeier verwischt historische Berichte durch phantasievolle Dialoge, schafft Bilder und Momente, die durchaus wahr sein können, es aber nicht sind, nicht mit Sicherheit. Das ist, vor allem zu Beginn, wenn die Räume noch neu und Matous Augen noch unbekannt sind, ein großer Spaß. Die Nähe zu historischen Figuren, denen Köhlmeier mit dem Respekt eines Historikers begegnet, ist spannend, Unterschiede im Denken zwischen Desmoulins und Robespierre, zum Beispiel, arbeitet er gekonnt und fein heraus. Die Figuren, denen Matou begegnet, sind jedoch das einzig lebendige Element jener Räume, die Köhlmeier ihnen zur Verfügung stellt. Den Figuren wird zwar teilweise eine faszinierende Psychologie angedichtet, aber gleichzeitig scheint die Welt um sie herum leer zu sein.
Diese Räume tun sich auf als Teil einer großen Erzählung, als Teil der Erzählung eines Katers. Matou ist nicht der erste Kater, der sich in der Literaturgeschichte einen Platz zum Fabulieren sucht. Die Vorbilder sind zahlreich, sie werden auch von Matou selbst zitiert. Einerseits ist dies natürlich eine Perspektive, eine Figur, die Köhlmeier diverse Möglichkeiten eröffnet. Der Kater lernt im Laufe seiner Leben zu lesen, zu sprechen, zu schreiben. Im zweiten Leben, zu Gast bei E.T.A. Hoffmann, Schöpfer des Katers Murr (zu dessen Vorbild er sich stilisiert), kommt Matou intensiver mit der Literatur in Kontakt. Matou lernt die Freunde von Hoffmann kennen, darunter Adelbert von Chamisso, und ist fasziniert. Das literarische schreibt sich in diese Figur ganz wie von selbst ein. Von den Dichtern der Romantik inspiriert, verfasst Matou Gedichte und Gesänge und fügt sie nach Lust und Laune in seine Memoiren ein. Doch nicht nur die Literatur, auch das Philosophieren bekommt einen ständigen Platz in Matous Ausführungen: Köhlmeier mästet sein Werk geradezu mit Reflexionen über die menschliche Natur. Begeistert von seiner Fähigkeit zur Sprache, denkt Matou über diejenigen nach, die auch seine Welt als Katze prägen, der Mensch greift schließlich in die Natur ein, auch aus Sicht des Katers. So sehr wird er zum Philosophen, dass er es sich nicht nehmen lässt, den „Matouismus“ zu erfinden. Warum auch nicht, es ist eine Katze, soll sie doch ein wenig spielen, denkt sich die Leserin, während Matou sich vom Wind des Genies durchs Fell wuscheln lässt.
Damit das ganze nicht wie eine platte Abfolge der Katzenleben daherkommt, verschneidet Köhlmeier Matous Ausführungen mit Vorblenden in sein letztes, siebtes Leben. (Kontinentale Katzen haben sieben, anglophone Katzen neun Leben: Eines von Hunderttausend charmanten bis absurden Details). Dieses findet in Wien statt, im Hause von D.I.N., Dame Ingeborg Novak, vor allem aber mit Daniel, ihrem Enkel. Um ihn spinnt Köhlmeier eine Coming-of-Age-Geschichte, die einen angenehmen Kontrast zu den historischen Ausführungen bildet. Auch hier nutzt Köhlmeier die Möglichkeit, Matou zu einem Vehikel für verschiedene Themen zu machen: Matou hilft Daniel in Fragen der Liebe, ist für den jungen Studenten in geschichtlichen Fragen eine Unterstützung, sie unternehmen einen gemeinsamen Ausflug nach Brüssel, als Daniel von seiner Freundin mit seinem besten Freund betrogen wird. Im Gegenzug überreicht Matou seinem Freund Listen mit Werken, die dieser in seinem letzten Leben noch verschlingen will, oder die Köhlmeier seiner Leser/innen/schaft ans Herz legt. Was ein-, zweimal als sympathische Dringlichkeit gelesen werden kann, verkommt zwischen all den Zitaten großer „menschlicher“ Autoren zu trockener Aufzählung. Wer stellt sich hier zur Schau: Kater oder Autor?
Der enorme Anspruch an dieses Projekt, so etwas wie ein totaler Roman über das Leben und die Welt, in der es stattfindet, ist jedoch auch Schuld daran, dass es bis zuletzt keine wirkliche Motivation gibt, durchzuhalten. Die Memoiren werden auch auf der letzten Seite noch von Matou geschrieben werden, er wird alle seine Leben überleben. Das bedeutet: Es geht einfach so dahin. Spätestens nach dreihundert Seiten wird die Frage laut, was denn jetzt noch kommen mag. Ist das alles eine großangelegte Exposition? Nein, die Erzählungen, die keine wirklichen Fallhöhen kennen, verschwinden so klanglos, wie sie daherkamen. Der Roman verlässt sich in einer unverständlichen Selbstgewissheit darauf, dass der von Matou erschaffene Kosmos über knapp tausend Seiten trägt. Dabei ändert sich jedoch nie wirklich viel, weder im Erzählton, noch in der Struktur des Textes. Es gibt keine großen wahrnehmbaren Unterschiede zwischen den einzelnen Leben, es scheint gleichgültig zu sein, ob Matou vom Frankreich des 18. Jahrhundert spricht oder von seinem Leben auf der griechischen Katzeninsel Hydra, wo er sich zum autokratischen Führer aufschwingt. Bis auf die Episode in New York im Kreis von Andy Warhol, wo lakonische Sätzchen den romantischen Ton ersetzen, bleibt letzterer immer präsent. Durch ihn tritt auch nicht selten der Spaß des Autors an seinen eigenen Ideen zutage. Köhlmeier scheint dabei nicht allzu häufig an sein Publikum zu denken, anders lässt sich der durchaus übertriebene Umfang kaum erklären. Die 960 Seiten sind vollgestopft mit einer kaum fassbaren Fülle an Details und langen Ausführungen, die ein fehlendes Bewusstsein für die Rezeption des Textes offenbaren. Der Leser/innen/schaft werden Formulierungen zugemutet, die schonungslos aus jedem Debüt gestrichen würden. Mitunter zu Recht. Wenn Köhlmeier schreibt, „Paulina war verrückt. — Es ist gemein, wenn ich das sage. Ich nehme es zurück und streiche den Satz durch. Nicht nur gemein ist es, Paulina verrückt zu nennen, spießig ist es obendrein. Und engstirnig. Kleinkariert, eingleisig und arrogant. Und aufgeblasen, eitel, hochmütig, hinterhältig, bösartig, böswillig, hämisch, schmählich, infam, selbstherrlich, anmaßend, dünkelhaft, präpotent, gespreizt, geziert, pomadig geradezu, pampig, insolent, blasiert, eitel (hab ich schon), hoffärtig, affektiert“, dann folgt darauf nichts als die Feststellung des Erzählers (in einer langen Klammer), dass er schon sehr tief in „unserer“ Sprache drinstecke und der Leser bedankt sich für den Auszug aus dem Thesaurus. Das was dem Roman an treibenden Kräften fehlt, scheint Köhlmeier durch Reflexion kompensieren zu wollen.
Eine Spannung, aus der sich viele Probleme dieses Romans ergeben, besteht zwischen dem Leben des Katers als solchem und dem Leben des Katers in menschlichen Bedeutungszusammenhängen. Matou steht als sprachbegabtes Tier zwischen den Welten und ist hier wie dort nicht zu Hause, was sich als die Kehrseite dieser besonderen Perspektive auf den Menschen erweist. Spricht Matou von seinem Leben als Katze, so drängen sich einem immer wieder menschliche Annahmen auf, Ideen davon, wie es wohl wäre. Natürlich geht anderes aus offensichtlichen Gründen nicht, und doch wirkt Matous Erleben beinahe unwirklich klein: Tierische Brutalität wird sehr schlicht beschrieben, beinahe wie eine Beiläufigkeit, wird das dem Kater gerecht? Abgesehen von der Episode auf Hydra, in der Matou nur allzu bekannte Muster menschlichen Verhaltens anwendet, sind die Katzen überhaupt nur in den Zwischenkapiteln nach Matous Toden unter sich. Im „Weggemachten“, einer Art Katzenlimbus, der, wie auch die „echte“ Welt des Romans, wenig Ausschmückung erfährt. Allein der große Katalog, voll von Trailern für das mögliche nächste Katzenleben, erfährt darin Bedeutung, abseits von Begegnungen mit anderen Katzen samt klingenden Namen, wie „Fragnichtchen“ oder dem „munkelbraunen Kater mit den hundert Schnurrhaaren wie ein Strahlenkranz“. Dieses „hier-nicht-dort-nicht“, mal mehr Mensch, mal eher Tier, durchzieht Matou, und lässt vieles unfertig wirken, beziehungsweise wie einen Mittelweg, um nicht die phantastische Logik zu sehr durcheinanderzubringen.
Was bleibt nun von der Verlagsankündigung, nach der Köhlmeier eine unvergessliche Romanfigur erschaffen hat? Das Buch bringt viel mit an den Lesetisch, das fasziniert, erhellt, unterhält. Trotz der Länge und der inflationären lyrischen Passagen, in denen Matou sich mit unterschiedlichem Erfolg um Kopf und Kragen dichtet, hat Köhlmeier einen faszinierenden Kosmos erschaffen. Eine Figur, die durch gelegentlich völlig amoralische Haltungen oder ein intensives Streben nach Erkenntnis fasziniert. Aber den Gedanken, ob dem Werk nicht eine Entschlackungskur gut täte, etwas Straffen hier, Beschleunigung dort, wird man nicht los, so sehr man sich auch auf den philosophierenden Kater einlässt. Der Roman stellt sich so in eine Reihe mit anderen Werken, die ihrem hohen Anspruch mit durchschnittlichem Erfolg gerecht wurden, die Gattungen, Stile, und Themen mischten, aus denen gut auch verschiedene Bücher hätten entstehen können. Matou wird seine Fans finden, und sie werden dankbar sein, dass Katzen sieben Leben haben. Dem Rest wird dieses Jahr wohl ein gutes Stück Arbeit unter den Weihnachtsbaum gelegt werden.