Mathilde hat ihren Mann jedoch sehr geliebt, sie ist nach seinem Tod in Kummer und Einsamkeit versunken und fast völlig verstummt. Bis eine Krähe am Grab ihres Mannes ihre Lebensgeister noch einmal weckt. Die ehemalige Künstlerin Mathilde schließt Freundschaft mit dem Vogel und nennt ihn Kafka, nach dem Lieblingsautor ihres verstorbenen Mannes.
In den Malstunden des Seniorenheimes beginnt sie nach ihrem Rückzug wieder zu zeichnen, ihr einziges Motiv ist dabei Kafka. Die Portraits der Nebelkrähe sind ab nun Mathildes Verbindung zu ihrer Umwelt. Sie entwickeln beinahe magische Kraft und bringen ihre Schöpferin wieder in Kontakt mit den Menschen. Erst mit Frau Hampel, ihrer Animateurin in den Malstunden, dann auch mit ihrer Tochter Marlene und schließlich sogar mit dem jungen Ludwig, der von Wien nach Berlin gezogen ist, um eine Karriere als Fotograf zu starten.
Kafka bringt die zerstrittenen und etwas verlorenen Familienmitglieder auf wundersame Weise wieder zusammen. Nicht dass alle Kränkungen vergessen wären – doch die Starre und Einsamkeit, in der Mutter, Tochter und Enkel ihr Leben fristen, löst sich auf. Am Grab von Mathildes Mann kommt es zur erlösenden Aussprache zwischen den drei Generationen, die nicht nur familiär, sondern auch durch ihre Liebe zur Kunst miteinander verbunden sind.
Wir erleben eine späte Versöhnung, sie kommt jedoch gerade rechtzeitig, um Mathilde einen friedvollen, ja glücklichen Abschied zu ermöglichen.
Der Zauber wirkt auch über den Tod hinaus: Ludwig, der sich als Fotograf in dieser Künstlerinnenfamilie stets unterlegen fühlte, organisiert zur Erinnerung an seine begabte Großmutter eine Ausstellung mit ihren Zeichnungen und Bildern und plant sogar ein Buch über sie zu schreiben. Er hat sie erst in den letzten Tagen ihres Lebens richtig kennen gelernt und begibt sich jetzt mit all seinen Talenten auf Spurensuche. Ganz nebenbei findet er auf diesem Weg auch seinen eigenen Platz in der Familie.
Diese Erzählung – es sind knapp 100 Seiten in übergroßer Schrift – ist sprachlich mit Absicht sehr schlicht gehalten: Kürzeste Sätze, einfache Wörter, ebensolche Dialoge, eine personale Erzählperspektive, in der immer klar ist, wer gerade spricht. Alles gemäß dem Programm der edition naundob, die Bücher in Einfacher Sprache verlegt, um möglichst vielen Menschen Zugang zu Literatur zu verschaffen. Die Protagonisten der Bücher kommen aus der Gruppe der angesprochenen LeserInnen. Themenschwerpunkte der Edition sind Alphabetisierung, Menschen mit Lernschwierigkeiten, Migration bzw. Deutsch als Fremdsprache sowie Alter und Pflege. Trotz dieser Vorgaben ist Jürgen Heimlichs „Mathilde“ ein lebendiges Buch, das sich eventuell auch gut zum Vorlesen eignet.
Ein zweiter Titel des Autors Jürgen Heimlich in dieser Edition – „Frau Else gibt ein Interview“ – widmet sich ebenfalls dem Themenbereich Alter, hier jedoch verquickt mit einem spannenden Stück Zeitgeschichte. Else, die Heldin des Buches, ist 92 Jahre alt und erzählt für ein Filmprojekt aus ihrem Leben. Sie stammt aus Ostpreußen und musste im Winter 1944 mit ihrem kleinen Sohn vor der roten Armee fliehen. Bei einem Angriff verlor sie ihre Eltern und ihr Kind, sie selbst hat jedoch überlebt und ist bereit, sich im Seniorenheim noch einmal diesen Erinnerungen zu stellen.
Neben Jürgen Heimlich schreiben noch weitere AutorInnen Bücher für dieses spezielle Projekt, auf der Webseite des kleinen Berliner Verlags dem alljährlichen Markt für Independent- und Kleinverlage im Wiener Museumsquartier.