#Theater

Martinisommer

Toni Bernhart

// Rezension von Claudia Peer

Neue Stücke.

Ein Mann, der zwölf Mal im Jahr berührt wird. Von seiner Friseurin. Eine Mutter, die leidet. Ein Junge aus dem Jenseits, der Gespräche mit dem Mann/Nachbarn und der Mutter führt. Die Dialoge kreisen, kurzatmig und ohne Pathos, um das Schreckliche: die Ermordung des fünfzehnjährigen Sohnes.

Das Stück Martinisommer thematisiert eine Trauer, die so intensiv real ist, dass alles andere nicht mehr wirklich sein kann. Imagination vermischt sich mit Zeit und Raum, der Schock bohrt sich in die Verdrängung und lässt auferstehen, was schon nicht mehr wahr ist. In einer Radioshow am Nachmittag berichtet die Mutter über den Mord und den noch nicht ermittelten Mörder. Alle Peinlichkeit existiert nicht mehr. Als der Mann vor der Tür steht, um die Miete zu kassieren, will sie sich wieder als Frau fühlen. Verstörend ist nicht nur der Mann, der seinen Puppen gern die Augen entfernt, sondern vor allem die Tatsache, dass ein Toter über seine eigene Ermordung spricht – und das in einer Abgeklärtheit, welche die Gewalttat umso fürchterlicher macht. Der gesamte Text ist eingehüllt in die Frage nach dem Warum, die jedoch nicht beantwortet wird. Gerade davon lebt das Stück. Am Ende ist die Mutter „eigentlich tot“, wie der lebendige tote Sohn dem Mann berichtet.

Martinisommer, hier gemeinsam versammelt mit dem Hörspiel „von da nach dort und zu mir zurück“, dem „Monolog eines Reiseführers zulasten des Busfahrers“ und dem Stück „Liebeskontor“, hat es verdient, hier auch als Buchtitel in Erscheinung zu treten. Bernhart versteht es, gerade durch eine unsentimentale, ja künstliche Sprache, die nichts erklärt oder erklären will, ein Netz an Emotionen und zusammenhängenden Zusammenhanglosigkeiten zu spannen, das im Leser und in der Leserin gekonnt Verwirrung stiftet und Ratlosigkeit auslöst. Der Autor zwingt uns nicht zur Identifikation und zum Mit-Fühlen, sondern versetzt uns durch seinen formal komplexen Textaufbau in die uneinordenbare Kälte einer Verstehenslosigkeit, die dem historisch realen Stoff intendiert ist. Anlass für das Stück war die Ermordung des 17-jährigen Marinus Schöberl im brandenburgischen Potzlow im Juli 2002. Für „Martinisommer“ wurde der 1971 in Meran/Südtirol geborene Bernhart, der, wie er in Südtirol.Online verrät, nur zwei Wochen für die Erarbeitung eines Stückes braucht, zu den Werkstatttagen 2003 an das Wiener Burgtheater eingeladen.

Kommunikation über Telefon und Funk praktizieren Mirjam und Bertram, die sich über eine Kontaktanzeige kennen lernen, in dem Hörspiel „von da nach dort und zu mir zurück“. Die Dialoge beginnen spannend, verlieren jedoch an Intensität und halten am Ende nicht, was sie versprechen. Dazwischen gibt es Einschübe eines „Ich“, deren Inhalt und dramaturgische Notwendigkeit jedoch nicht eruierbar sind. Da hat sich der Germanist Bernhart wohl etwas zu sehr dem Dramatiker Bernhart in den Weg gestellt.

Der „Monolog eines Reiseführers“ wird gehalten von Jürgen Bachstedt, einem bei Hamburg geborenen studierten Europa-Ethnologen, der gerade als Reiseführer einer City-Bus-Tour durch die Tiroler Stadt Schwaz gondelt und dabei viel zu viel und zu belanglos über Kapellen, Ayurveda, Satellitenschüsseln, das Nichtvorhandensein von Geranien oder die Lagigkeit von Toilettenpapier erzählt. Zuletzt erhalten wir noch detaillierte Informationen zum Schwazer Veranstaltungsprogramm. Dass Bachstedt seinen Patenkindern jedes Jahr andere Messer schenkt, damit sie „die unterschiedlichen europäischen Länder besser kennen“ lernen, spricht nicht gerade für die Schwazer – oder für die Hamburger? Man sollte wohl auch nicht zu lange darüber nachgrübeln, weshalb sich der Reiseführer von seiner Frau trennte, nachdem sie ihn gebeten hatte, die Haushaltshilfe im Krankenhaus zu besuchen.

Karin und Silvia, zwei arbeitslose Akademikerinnen mit Doktortitel, gründen in der Komödie „Liebeskontor“ nach Jahren der Arbeitslosigkeit ein Intellektuellen-Puff. Während der Sexdienstleistungen sprechen sie über „relationale Semiotik in der Propaganda der Stalin-Ära“ oder „das Bettmotiv bei Kafka, Joyce und Tschechow“. Das Geschäft floriert. „Trakl-Rezitationen in der Gummizelle, Igel-Poppen in Bayreuth, klassisches Rudelficken in Andalusien“ sind bereits im Programm. Die zwei Frauen sind mittlerweile nur noch Hüterinnen des Imperiums, das vom Liebeskontor Moskau europaweit organisiert wird. Doch mit dem großen Geld kommt die große Langeweile. Karin will nur noch eins, und das zum ersten Mal: kochen. Und Urlaub. Aber nein – satirisch klischeehaft macht ihnen die Russenmafia einen Strich durch die Rechnung: ein Terroranschlag zerstört ihr Etablissement und wenig später wird Karin tot aufgefunden. Da können die überreichten Blumen von Alice Schwarzer, der angekündigte Besuch der Frauenministerin, der Europe Woman Award, die Verleihung einer Honorarprofessur an der Wirtschaftsuniversität und der Gang an den Aktienmarkt auch nicht recht trösten. Silvia schwelgt in Erinnerungen an die brotlose Zeit, als alles noch in Aufbruchstimmung war. So schlimm ist es im Grunde aber dann doch nicht, weil am Ende alles anders kommt als gedacht und Karin nicht ganz so tot ist wie es scheint, sondern im Begriff, mit der Russenmafia an der Krim Hochzeit zu feiern. Eine Komödie eben – und ein netter Versuch, dem tristen Thema Arbeitslosigkeit mit Humor zu begegnen.

Toni Bernhart Martinisommer
Theaterstücke.
Innsbruck, Bozen, Wien: Skarabaeus, 2005.
104 S.; brosch.
ISBN 3-7082-3191-0.

Rezension vom 07.02.2006

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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