#Roman

Maria Elend

Winfried Gindl

// Rezension von Simon Leitner

Peter Flickers Aufzeichnungen über eine etwas umständliche kleine Reise.

„Und was erlebt man da so, wenn man so herumfährt? Ich wende den Blick nicht von ihren Augen. Ich sage: Nichts. Nicht viel jedenfalls. Ich schau einfach nur, höre, lerne manchmal Leute kennen.“ (S. 845) Es mag zwar auf den ersten Blick etwas verwundern, doch würden eigentlich schon diese wenigen von Peter Flicker, dem Ich-Erzähler von Maria Elend gegenüber einer Zufallsbekanntschaft geäußerten Worte ausreichen, um den Inhalt von Winfried Gindls immerhin 1.400 Seiten starkem Roman adäquat zu beschreiben.

Maria Elend. Peter Flickers Aufzeichnungen über eine etwas umständliche kleine Reise, so der vollständige Titel des zweibändigen Werks, gibt sich als ein von einem gewissen Winfried Gindl gefundenes und herausgegebenes Manuskript, das von einem Kärntner namens Peter Flicker während einer 1981 unternommenen Interrailfahrt verfasst wurde – und zwar „live“, wie man dem Vorwort des Herausgebers entnehmen kann, das uns unter anderem ebenso darüber aufklärt, wie und unter welchen Umständen Gindl (der Herausgeber) in den Besitz des Textes gelangt ist und auf welche Art und Weise dieser von ihm editiert wurde.

Der Herausgeber hätte, wie er im Vorwort schreibt, eines Tages einen Müllsack (!) voll mit diversen Schreibheften vor der Tür seines Verlages gefunden, die er nach kurzer Durchsicht erst einmal beiseite legte, vorwiegend, weil er zu jener Zeit schon genug Arbeit um die Ohren und darüber hinaus auch noch mit gesundheitlichen wie persönlichen Problemen zu kämpfen hatte (von denen einige nur angedeutet, andere aber etwas genauer erläutert werden). Erst einige Jahre nach seinem erzwungenen Fund befasste sich der Herausgeber etwas näher mit dem Inhalt des Müllsacks, den er zunächst nur mäßig spannend fand. Doch irgendwann stieß er „dann auf Passagen, die mir gefielen, weswegen ich mehr las, und so begann mich auch die erzählte Geschichte zu interessieren […]. Als ich dann zu jenen Stellen kam, die mich sehr ansprachen, die mir wichtig wurden – es gibt in dem Manuskript jedoch ebenso genug, das mich anödet – und an denen ich mich als Leser teilweise recht intensiv mit dem Flicker identifizierte, begann ich diesen und anderes in dem Text, den Text selber, und denjenigen, der ihn geschrieben hat, naturgemäß, wie man so schön sagt, mit anderen Augen zu sehen.“ (S. 61)

Ganz ähnlich geht es auch dem Leser mit „Maria Elend“: Man muss sich, nicht nur ob des schon angesprochenen Umfangs, Zeit und Muße nehmen und sich gänzlich auf den (oder präziser: die zwei) Brocken einlassen, denn Tatsache ist, dass auf inhaltlicher Ebene, insbesondere im ersten Teil, eigentlich nicht allzu viel passiert. Peter Flicker, 22-jähriger Student der Philosophie, und sein Freund Stefan unternehmen von ihrem Heimatort, dem kärntnerischen Maria Elend aus eine Interrailreise mit dem Ziel Kreta, kehren aber bereits in Athen aufgrund Stefans auftretender Kreislaufprobleme wieder um, fahren zu Stefans Freundin nach Vorarlberg, wo Flicker schließlich mit seiner Tour durch Österreich startet, die ihn letztendlich wieder nach Maria Elend führt. Die Geschichte dieser Reise(n) wird aus der Sicht Flickers, eines überaus aufmerksamen Beobachters und geborenen Grüblers erzählt, und tatsächlich hat man den Eindruck, „live“ dabei zu sein: Flicker lässt buchstäblich nichts aus und beschreibt langweilige wie -wierige Banalitäten ebenso genau wie vermeintlich oder tatsächlich außergewöhnliche Begebenheiten, für ihn scheint beinahe alles gleich wichtig oder unwichtig zu sein – selbst die Frauen, die er regelrecht „scannt“ und deren (fehlende) Qualitäten er genau auflistet, sind da nicht ausgenommen.

Dieser ausgelebte und sich im Text manifestierende Drang Flickers, alles möglichst präzise und in allen nur erdenklichen Einzelheiten zu schildern, ist gerade im Bezug auf die Frauen zugegebenermaßen recht anstrengend, doch wird man für diese Mühen mehr als genug entschädigt. Es sind die zufälligen wie geplanten Begegnungen und Gespräche Flickers mit Un-, Halb- und Bekannten verschiedenster Herkunft, von denen der Roman lebt – seien es nun zwei Soldaten aus Jugoslawien, ein iranischer Neotrotzkist, ein Römer in Geldnöten oder eine junge Schweizerin, der Flicker unvermutet auf einer Fähre begegnet und die ihm nach einem ebenso unvermuteten Abschied kurze Zeit später fast nicht mehr aus dem Kopf geht. Und auch die ständigen Grübeleien Flickers, der sich je nach Situation über Gott und die Welt seine Gedanken macht und sich oft regelrecht in seinen Gedankengängen verliert, sind mehr als lesenswert: „Ein Spiegelbild reicht eigentlich zur Erkenntnis, alle Reflexion ist drin, die möglich ist. Ich könnte mich restlos darin erkennen, wenn ich genügend Ideen hätte. Aber will ich mich überhaupt erkennen? Will ich alles über mich überhaupt wissen? Bin ich nicht froh, und kann ich nicht froh sein, daß ich vieles nicht weiß? Gehört diese Ersparnis nicht zum Kostbarsten im Leben? Wenn Gott tatsächlich allwissend ist, dann muß er wirklich Gott sein, um das ertragen zu können.“ (S. 467)

Maria Elend ist, alles in allem, also kein wirklich einfaches, aber dafür umso lohnenswerteres Unterfangen, eine Herausforderung, der sich vorwiegend jene Menschen stellen sollten, die wie der Herausgeber ein Faible für unfertige, fragmentarische und ausufernde Texte haben und Oscar Amalfitano (einer Figur aus Roberto Bolaños monströsem Roman „2666“) zumindest teilweise zustimmen können, wenn er mit folgenden Worten seinem Bedauern über die fehlende Bereitschaft von Lesern, sich auch einmal mit fordernden Romanen zu beschäftigen, Ausdruck verleiht: „Nicht mal die belesenen Apotheker wagen sich mehr an die großen, die unvollkommenen, die überschäumenden Werke, die Schneisen ins Unbekannte schlagen.“ Sollten sie aber dringend, und alle anderen gleich mit.

Winfried Giendl Maria Elend
Roman.
Klagenfurt: Kitab Verlag, 2014.
1463 S.; in 2 Bänden; brosch.
ISBN 978-3-902878-35-9.

Rezension vom 08.01.2015

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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