#Sachbuch

Margaret Stonborough-Wittgenstein

Ursula Prokop

// Rezension von Alfred Pfabigan

Bauherrin, Intellektuelle, Mäzenin.

Sie stammte aus der legendären Familie Wittgenstein, Gustav Klimt hat sie gemalt, ihr Bruder Ludwig war einer der Meisterdenker des 20. Jahrhunderts und hat ein Haus für sie gebaut, das ihrer Schwester Hermine nach seiner Fertigstellung viel eher eine Wohnung für Götter zu sein (schien), als für eine sehr kleine Sterbliche. Wenn wir davon absehen, dass ein Wittgenstein-Biograph sie „engstirnig und selbstgefällig“ nannte, dann wussten wir bisher wenig über die 1882 als siebentes von vierzehn Kindern geborene Margaret Wittgenstein, verehelichte Stonborough. Tatsächlich war ihre Lebenskonstellation derart, dass ihre Chancen, ein „Eigenes“ zu entwickeln, nicht groß waren und das Thema der Überforderung war – aus vielen Gründen – in ihrem Leben ein zentrales. Ob Margaret ein glückliches Leben geführt hat, bleibt offen, doch dass sie ein vieldimensionales „Eigenes“ realisiert hat, steht nach der Biographie Ursula Prokops wohl außer Zweifel.

Aus allen biographischen Arbeiten zu Ludwig Wittgenstein wussten wir, dass der bloße Umstand, Kind einer der reichsten Familien Österreichs zu sein, keineswegs eine glückliche Kindheit garantierte. Das bedrückende emotionelle Klima in der Familie Wittgenstein wird bei Ursula Prokop an Hand der unpublizierten Kindheitserinnerungen Margarets zwar neuerlich verdeutlicht und bleibt dennoch unklar. Der Vater, Karl Wittgenstein, wird in den Kindheitserinnerungen ein wenig als manisch beschrieben, als einer, der seine Kinder gerne überforderte und ihnen dann das Gefühl gab, ein Nichts zu sein. Eine überforderte und „nervöse“ Mutter, eine ebenso überforderte und in die Abstinenz flüchtende Kinderfrau und ein „tyrannischer“ Vater – das ist doch teilweise zeittypisch und hat unzählige Parallelfälle, die nicht in Katastrophen wie der des Selbstmords zweier Söhne mündeten. Das Rätsel, warum bei den Wittgensteins trotz so vieler glücklicher Anlagen so vieles schief ging, bleibt weiterhin ungelöst. Das innerfamiliäre Unglück schloss im Übrigen einen engen Zusammenhalt nicht aus, vor allem verstand man sich im Bereich der Kultur – für die vom Vater geförderte Secession und die Wiener Werkstätten waren zunächst alle begeistert und auch Margaret hielt an dieser ästhetischen Orientierung lange Zeit fest.

Ihre Rebellion gegen die emotionellen Defizite des Elternhauses war zunächst einmal eine intellektuelle: die außerschulisch erzogene, die erst 1907 in Zürich ihre Studienberechtigung nachholte, liest Nietzsche, Schopenhauer, Dostojewski und Tolstoi. Interessant sind zwei lebensbegleitende Autoren, der eine ist Karl Kraus, in dessen „Fackel“ während der antikorruptionistischen Periode Karl Wittgenstein mehrmals vehement attackiert wurde; der zweite ist Sigmund Freud. Margaret scheint sich jahrzehntelang mit ihm auseinandergesetzt zu haben, das Resultat war eine – in Ursula Prokops Darstellung eher allgemeine – Ablehnung, was sie aber nicht hinderte, sich 1937 bei dem schon schwer gehandicapten Freud einer Analyse zu unterziehen. Auch spielte sie – das ist eine für die Freud-Biographik neue und wesentliche Information – eine Rolle bei Freuds schneller Emigration 1938 nach London. Margaret hat kein Werk hinterlassen, doch war sie trotz des fragmentarischen Charakters der von Prokop zitierten Reflexionen eine eigenständig denkende Intellektuelle.

Klimts berühmtes Bild entstand 1904, nach den Selbstmorden der Brüder und der Verlobung mit Jerome Stonborough. Die Ehe mit dem rastlosen und schwer depressiven Jerome wird sie zu einer fast fünfzehn Jahre währenden Wanderschaft zwingen, der unglückliche Jerome scheint auch eine bedeutende Rolle beim Verlust ihres Vermögens gespielt zu haben. Er wird 1938 in Gmunden Selbstmord begehen und keinen Nachfolger finden: Margaret wird zwar ein Kult um ihre Schönheit nachgesagt, sie genoss die Anbetung der Männer, hielt aber auf Distanz. Sie scheint – wie ihr berühmter Bruder – ihr Vermögen als sozialen Auftrag angesehen zu haben, nahm Kinder in lebenslange Pflege auf, engagierte sich in den USA 1918/19 für die hungernden Kinder von Wien und tat ähnliches 1945 und nach dem Ungarnaufstand 1956. Neben ihren philanthropischen Aktivitäten förderte sie Wissenschaft und Kunst und war vor allem eine große und kenntnisreiche Sammlerin.

Ein wichtiger Bestandteil ihres Ablösungsprozesses vom Elternhaus war die allmähliche Abwendung vom secessionistischen Geschmack und die Suche nach unkonventionellen lebensästhetischen Lösungen. 1913, nach dem Tod des Vaters, kaufte sie die Villa Toscana in Gmunden und fand in Rudolf Perco, jener eigenartigen Figur, der Ursula Prokop unter dem bezeichnenden Titel „Von der Architektur des Roten Wiens zur NS-Megalomanie“ eine erhellende Monographie gewidmet hat, einen Architekten, der auf ihre dem Familiengeschmack dissidenten Vorstellungen eingeht. Bauherrin ist sie auch bei dem berühmten Haus in der Kundmanngasse. Im öffentlichen Vorurteil wird die architektonische Leistung, die dieser Bau bedeutet, Ludwig Wittgenstein und Paul Engelmann (Stichworte: jung, unerfahren, Schüler von Adolf Loos) zugeschrieben. Jacques Groags Anteil (auch über ihn gibt es eine – unpublizierte – Studie der Autorin, die man gerne lesen würde) wird dabei ebenso übersehen, wie der Margarets, die nicht nur kommunikative Verdienste bei der Koordination dieses namensmäßig noch ergänzbaren Häufleins kreativer Intelligenzen hatte: Ursula Prokop spricht von einer „mühsam – wenn auch genial – erstellten Synthese der divergierenden Vorstellungen aller Beteiligten“.

Ursula Prokop hat mit ihrer akribischen, auf neue Quellen gestützten Arbeit zu einer bisher als „Salondame“ und „Randfigur“ unterschätzen Frau einen wichtigen Beitrag zu mehreren Forschungsthemen geliefert. Das Verhältnis zwischen Margaret und Ludwig war zeitweilig äußerst eng und die Biographie der Schwester erhellt auch das Leben des Bruders, vor allem was das langjährige, hochambivalenteVerhältnis zwischen Marguerite Respinger und Ludwig Wittgenstein betrifft. Daneben bietet das Buch eine Innenschau in das Leben einer der wichtigsten die Kultur des gepriesenen „Wien der Jahrhundertwende“ tragenden Familien: der Konflikt zwischen den Positionen „Secession“ und „Loos“, also zwischen der „asketischen“ und der „ornamentalen“ Moderne, hatte in diesem Fall auch eine innerfamiliäre Dimension. Wie alle Bücher zu diesem Forschungsgegenstand lesen sich die Teile über die Enteignung der 1940 in die USA emigrierten Margaret und ihre Versuche, nach 1945 Restitution zu erlangen, aus heutiger Perspektive peinlich und liefern wieder einmal Anlass zur österreichischen Selbstscham.

Ursula Prokop Margaret Stonborough-Wittgenstein
Sachbuch.
Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2003.
283 S.; geb.; m. Abb.
ISBN 3 205 77069 2.

Rezension vom 28.05.2003

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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