Die Autorin Anna Maria Stadler hat Bildhauerei, Kulturwissenschaft und Germanistik studiert und forscht seit 2019 als Doktorandin an der interuniversitären Einrichtung Wissenschaft & Kunst in Salzburg. Ihre Arbeiten bewegen sich entlang der Grenzen von Kunst, Literatur und Theorie. So auch der Roman Maremma, der als theoretische Reflexion einer Generation gelesen werden kann und gleichzeitig ein sprachliches Bild darstellt.
Die Vision ist die Folgende: Eine Gruppe von Freunden fährt gemeinsam auf Urlaub. Sie kennen sich seit der Kindheit, sind mittlerweile aber erwachsen geworden und leben ihr eigenes Leben. Der Urlaub ist ein Ritual, das jedes Jahr wiederholt wird. Ansonsten scheint die Distanz zwischen den Freund:innen zu wachsen. Eine hat ein Kind. Eine ist Ärztin. Eine ist Künstlerin. Esther, die Protagonistin, ist Sozialarbeiterin. Und obwohl alle eigentlich glücklich sein könnten, scheint es so, als wäre es niemand: „Als ich ins Wasser gehe, sind die anderen schon wieder am Ufer. Beim Hineingehen das Gefühl, dass einem der Sand unter den Füßen weggezogen wird, wenn sich die Wellen wieder zurückziehen.“ (148)
Die Location ist die sumpfige Küstenlandschaft Maremma in Italien. Die Klimakatastrophe ist dort bereits sichtbar. Oder ist es etwa gar nicht die Natur, die so mitgenommen wirkt? Ist das alles möglicherweise nur ein Einblick in das Innenleben von Esther? In diesem Roman ist die Handlung Nebensache. Kaum etwas passiert und gerade am Anfang könnte das manche Leser:innen irritieren oder auch langweilen. Doch es lohnt sich weiterzumachen, umzublättern, denn mit jeder Seite taucht man beim Lesen tiefer ein in das eigene Selbst. Die Assoziationen entfalten sich und die Handlung wird tatsächlich unwichtig. Wie das möglich ist? Wahrscheinlich weil es sich wirklich um den Roman einer Generation handelt. Y und Z kennen all das nur zu gut: Die Klimakrise, die ständig als menschengemachte Bedrohung im Hintergrund mitschwingt. Die Freundschaften, die an Globalisierung und Gesellschaftsorganisation zerbrechen. Das Leid, das unerreichbare Ideale verursachen. Den Druck, der nun auf diesen jungen Schultern lastet, weil frühere Generationen zu wenig oder zu viel getan haben.
„Ich horche auf das Rauschen vom Meer, unterbrochen von einem Gespräch von zwei nicht weit entfernt, die noch oder schon wach sind. Höre zu, wie eine angenehme Stimme über offene Wunden spricht. Dabei legt sich eine Unruhe formlos über mich, von der ich nicht weiß, wie sie anzugreifen oder abzuschütteln ist.“ (53)
Beim Lesen dieses Buches überkommt einen diese Unruhe tatsächlich. All diese Themen, die sonst alltäglich und bekannt sind, werden auf eine Weise vorgeführt, die wahrscheinlich alle trifft, weil sie so viele Leerstellen lässt. Der Sound von Maremma ist intellektuell und allgemein. Alles nichts Konkretes, könnte man sagen und im gleichen Moment an die eigenen Erfahrungen denken. An die Ängste. An die Erlebnisse. An die Geschichten. Alles ist da – lebendig und real. Nun auch in Buchform.
„Pascal beginnt zu zittern, ich lege ihm die Hand auf die Schulter und sage, wie so oft, dass er es jetzt so erlebt, dass es aber bald wieder anders sein wird. Ich merke, er hört uns nicht, obwohl er mechanisch nickt.“ (218)
Manche Leser:innen werden Maremma vielleicht im Jahr 2022 nicht lesen können. Auch wenn sie das Buch bereits gekauft haben. Auch wenn es in ihrem Regal liegt und verstaubt. Sie werden einige Seiten lesen und dann noch einige mehr und sich innerlich dagegen wehren, denn so sehr diese Lektüre eine persönliche Bereicherung sein kann, weil sie so viel Innenschau bietet, die einen näher an sich selbst, aber auch an die Mitmenschen heranführt, so sehr trifft dieses Buch auch das Zentrum der Ängste, die bei vielen im Februar 2022 ganz neu entfacht wurden.
Natürlich ist auch das nur eine mögliche Lesart, eine ganz individuelle Wahrnehmung und eine Meinung. Denn eigentlich ist es gerade diese Zeit, die so ein Buch braucht.