#Prosa

Mandelduft

Lenka Reinerová

// Rezension von Ursula Seeber

„So ergeht es einem, oder, besser gesagt, so ergeht es mir, wenn ich durch Prag laufe und ein italienisch blauer Himmel nicht nur die vergoldeten Kreuze auf den Kirchturmspitzen und die frisch getünchten Stukkaturen an den Häuserwänden aufleuchten läßt, sondern auch hineinleuchtet ins Erinnern an längst und jüngst Gewesenes, an Abgeschlossenes und weiter Offenstehendes, in das, was man selbst getan hat, aber auch das, was einem angetan wurde“ (S. 14f.).

Dieses Erinnern an „längst und jüngst Gewesenes“ ist es, was die Erzählungen der 1916 in Prag geborenen Autorin aus dem Umfeld von Egon Erwin Kisch, F. C. Weiskopf und Anna Seghers vorantreibt. Es sind Erinnerungstexte, die mit dem Anspruch autobiografischer „Authentizität“ geschrieben wurden, und zugleich Texte über das Erinnern, positioniert an Schmerz- und Wendepunkten der neueren europäischen Geschichte: Nationalsozialismus und Shoa, Slánsky-Prozesse und Prager Frühling – Kontexte, in denen Lenka Reinerovás Leben verlief. Davon kann sie sehr persönlich erzählen.

Das Topografische spielt in den Texten eine wichtige Rolle, gibt dem Erinnerten Struktur: „Vielleicht war es das Zigeunerbaby, ganz bestimmt die Ecke der Langen Gasse, die auf einmal eine Kindheitserinnerung in mir wachrief“ (S. 10f.).

In „Kein Mensch auf der Straße“ erzählt die Dolmetscherin von einem Auftrag, zu einer Tagung in die tschechische Provinz zu reisen. Die Fahrt führt nach Theresienstadt, jenen Ort, von dem aus ihre Mutter deportiert wurde. Wo früher ein Umschlagplatz für massenweises Sterben war, erlebt Lenka Reinerová jetzt ein ausgestorbenes Szenario, dem nur ein paar Patienten der örtlichen psychiatrischen Anstalt Spuren von (entfremdetem) Leben verleihen.

In „Mandelduft, Piratentuch und grüne Ringe“ gibt eine Urlaubsreise in ein slowakisches Dorf Anlaß zu Anekdoten über kuriose Begegnungen mit Käuzen und Lebenskünstlern. Im großen Mittelstück „Tragischer Irrtum und richtige Diagnose“ berichtet sie von ihren Gefängnisaufenthalten im Exil und als Opfer der stalinistischen Säuberungen (dem „tragischen Irrtum“) und schreibt zum ersten Mal von ihrer Krebserkrankung. Beim Gang durch das heutige Prag – zum Elternhaus oder über den Jüdischen Friedhof – kommen wie auf Stichwort noch einmal ihre eigene und die Lebensgeschichten ihrer Familie und Freunde zur Sprache.

Als Überlebende besteht Lenka Reinerová auf ihrer Nähe zu den Toten und auf ihrer durch keinerlei Gestaltungskunst zu ersetzende Zeugenschaft: „Wieso habe gerade ich alles überlebt? […] wenn dem schon so ist, dann sollte ich vielleicht etwas von manch einem dieser Menschen in mir weitertragen. Ein Stückchen unseres gemeinsamen Traums, ein Körnchen unserer Weisheit, auch wenn sie noch so verzerrt, in den Schmutz getreten oder ganz unmachbar geworden zu sein scheint“ (S. 76). Sie ist eine genau beobachtende, geschulte Archivarin ihrer Erinnerungen, versteht sich aber nicht als Darstellungskünstlerin. Durch einfache Verfahren wie Parallelisierung und Kontrastierung gibt sie den Texten eine Erinnerungsstruktur, die ihre Spannung aus der ständigen Verschränkung von Erinnertem und Erlebtem, von Gegenwart und Vergangenheit bezieht. Sie tut dies in unprätentiösem, fast leichtem Ton. Es gelingt ihr, ohne Pathos oder Bitterkeit zu sprechen, ohne die tatsächliche Tragik des Geschehens zu inszenieren oder die eigene Überlebensleistung zu stilisieren.

Der appellative Gestus hingegen ist unübersehbar. Lenka Reinerovás neue Erzählungen sind Lehrstücke für die Bewältigung von Krisen durch Wahrnehmung des Guten und durch die Energie des politischen Beheimatetseins. Das ist ihre Form des angemessenen Erinnerns.

Mandelduft.
Erzählungen.
Berlin: Aufbau, 1998.
144 Seiten, gebunden.
ISBN 3-351-02838-5.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 27.11.1998

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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