#Roman

Mama

Jessica Lind

// Rezension von Friederike Schwabel

Ein Hinwenden zum Thema Mutterschaft kann man in der deutschsprachigen Erzählliteratur zeitgenössischer Autorinnen in den letzten Jahren anhand von so unterschiedlichen Romanen wie Gertraud Klemms „Muttergehäuse“ oder Anke Stellings „Bodentiefe Fenster“ (u. a.) beobachten.* Jessica Lind beleuchtet in ihrem Romandebut nun gleichnishaft die dunklen, ambivalenten Seiten des Mutterwerdens und Mutterseins. Ihr Text changiert dabei zwischen Beziehungs- und Horrorgeschichte, erzählt von Alltagsmomenten, trägt Märchenelemente in sich, erzeugt eine sich steigernde Irrationalität und bleibt dabei dicht an der Wahrnehmung der zentralen Romanfigur, der (werdenden) Mutter Amira.

Handlungsort des in vier Teile gegliederten Romans, in denen sich das Grauen entfaltet, ist eine einsam gelegene Hütte und die sie umgebende Waldlandschaft. Ein emanzipiertes Paar; Amira, eine Produktfotografin, die ein Kind möchte, und ihr Lebenspartner Josef wollen dort ein paar Tage Urlaub verbringen. Auf einer märchenhaften Waldlichtung zeugen sie ein Kind. Beim nächsten Besuch der Hütte ist Amira hochschwanger; im dritten Teil existiert das gemeinsame Kind, ein Mädchen namens Luise, bereits; und im vierten Teil findet sich Amira mit ihrer Tochter in einer verhext anmutenden Ewigkeit im Wald gefangen wieder.

Wachsende Irrationalität

Geschickt wird dieser Text nach und nach seiner Alltäglichkeit beraubt und der Wirklichkeit entrückt. Die Romanfiguren sind boboeske Stadtmenschen; besonders für Amira hat die gesuchte Waldeinsamkeit etwas Befremdliches. Fehlenden WLAN- und Handyempfang kommentiert sie in Gedanken vielleicht etwas beunruhigt, aber lakonisch: „Digital Detox. Andere Leute zahlen Geld dafür.“ Der Realität entnommen wie dieser Kommentar einer Städterin, die sich in der abgeschiedenen Natur wiederfindet, klingen auch die Gespräche des Paars über Kindernamen oder Erziehungsvorstellungen und scheinen auch die Entwicklungen zu sein, die sie als werdende Eltern durchmachen. So ändert sich etwa ihre Haltung in Hinblick auf die nahende Zukunft mit Kind im Verlauf des Textes. Josef, der sich aufgrund von Erinnerungen, die er an seinen Vater hat, zuerst unsicher ist, ob er selbst einer werden möchte, entwickelt während Amiras Schwangerschaft einen väterlichen Beschützerinstinkt und wird zur „fein geeichten Alarmanlage“ der Reaktionen seiner Freundin. Er „fiebert“ dem Alltag mit Kind plötzlich entgegen – „[w]ickeln, es herumtragen, wenn es schreit, es auf seiner Schulter ein Bäuerchen machen lassen[.]“ Die werdende Mutter hingegen hat nach ihrem großen Kinderwunsch nun auch mit negativen Gefühlen gegenüber dem „Wesen in ihrem Bauch“ zu kämpfen, das „nimmt und nimmt und nimmt[.]“ Auch wird sie sich der gesellschaftlichen Realität bewusst, die sie mit Kind erwartet. So wird aus der geplanten geteilten Karenz nichts, denn Josefs Chef hat ihm bereits zu verstehen gegeben, dass „Väterkarenz kein Thema ist.“

In diese realitätsnahen, die Beziehungsnormalität werdender Eltern wiedergebenden Momente mischt sich zunehmend das Unbehagen der weiblichen Hauptfigur. Amira fühlt sich in der abgeschiedenen Waldlandschaft von Anfang an „beklommen“. Ihr passieren seltsame Dinge. Sie findet im Wald eine märchenhafte Lichtung, die Josef aus seiner Kindheit kennt und die zum Schauplatz unheimlicher Vorkommnisse wird. Mehrmals taucht ein geisterhafter Wanderer, auf, der ihr einmal hilft, den Weg zurückzufinden, als sie sich verläuft, dann aber verschwindet. Im Weiteren ertappt sie eine – im Text ebenso immer wieder auftauchende – streunende Hündin dabei, wie sie einen ihrer neugeborenen Welpen tötet. In der Hütte findet sie außerdem immer mehr Anzeichen, die auf einen Eindringling schließen lassen. Amira sieht etwa die Umrisse einer Gestalt unter der Bettdecke oder sie findet nasse Fußspuren im Wohnraum. Raum und Zeit beginnen für sie mitunter zu verschwimmen. Während sie mit Josef im Bett im Schlafzimmer liegt, hat sie das Gefühl, zeitgleich auf der Waldlichtung zu sein:

Sie hält seinen Kopf in ihren Händen, vergräbt ihre Finger in seinem Haar. Sie spürt feuchtes Gras. Ihre Finger krallen sich in weiche Erde. Sie öffnet die Augen. Josefs Kopf über ihrem, dahinter die Zimmerdecke, die hässliche Deckenlampe […]. Er ist ihr ganz nah. Sie sind im Zimmer. Sie schließt die Augen. Sie ist auf der Lichtung. Sie blickt nach oben. Sternenmeer.

Die Stimmung des Buches wird zunehmend unheimlich, die Vorahnung einer nahenden Gefahr entsteht. Es werden Spuren im Text gelegt, die vermuten lassen, dass Amira zur Bedrohung für ihr Kind wird. An einer Stelle drückt sie die Hände ihrer Tochter zusammen und hört die „Knochen knacken.“ Danach beruhigt sie sich selbst damit, dass dies nur ein böser Traum gewesen sei. Aber kann man als Leserin einer Hauptfigur noch trauen, die an ihrer eigenen Wahrnehmung zweifelt? Diese Ungewissheit macht das Buch vor allem im letzten Drittel zum Pageturner.

archetypische Figuren

In der Verlagsaussendung zum Buch beschreibt die Autorin, sie habe ihre Romanfiguren nach einer vom russischen Theaterregisseur Wsewolod Meyerhold entwickelten Schauspieltechnik aus der Versuchsanordnung „Vater, Mutter, Kind im Wald“ ausgearbeitet. Mehr als die Biografie der Figuren stehe ihre Funktion im Vordergrund, sie seien Archetypen, ihre Handlungen situationsgebunden. Man kann hinzufügen, dass diese Figuren durch ihre Allgemeingültigkeit den Lesenden große Identifikationsflächen anbieten. Außerdem sind sie Teil eines Textrepertoires, das vermehrt mit archetypischen Symbolen aufwartet, die, literaturwissenschaftlich betrachtet, zugleich auch Topoi und literarische Motive sind. Der Wald als Symbol für das Unbewusste ist zugleich eine märchenhafte Wildnis, in der der beschützende Wanderer oder das verwilderte Tier vorkommen. In einem Märchenbuch, das Amira und Josef am Dachboden finden, hat auch eine böse Hexe ihren Auftritt. Auf den Seiten dieses „Buchs im Buch“ spiegeln sich die Geschehnisse, die Amira erlebt, auf unheilvolle Weise wider. Diese Mise en abyme verstärkt die fantastische Ebene des Textes.

Mit seiner Märchensymbolik, den Grusel- und Horrorelementen und dem Spiel mit Raum und Zeit regt der Text eine Vielzahl von Lesarten an. Ist es sich verdichtender Wahnsinn, sind es die Auswirkungen eines Fluches oder vielleicht gar die letzten Gedanken einer Sterbenden, von denen hier erzählt wird? Intermedial betrachtet lassen sich im Weiteren Bezüge zu literarischen wie filmischen Werken herstellen, in denen die von der Welt abgeschiedene Waldhütte als Handlungsort auf unterschiedliche Weise eine unheimliche Bedeutung einnimmt – man denke zum Beispiel an Marlen Haushofers Buchklassiker „Die Wand“ oder im filmischen Bereich an Lars von Triers umstrittenes Drama „Antichrist“, indem sich der Schrecken in der Einsamkeit des Waldes zuspitzt und in dem ebenso ein Hexenmotiv eine Rolle spielt.

Finstere Seiten der Mutterschaft

Einen wichtigen Interpretationsansatz bietet der Text mit seinem thematischen Fokus auf die innerlichen wie äußeren Verstrickungen, die die Mutterschaft mit sich bringt, an. Dabei wird von starken, ambivalenten, sich ändernden Gefühlen berichtet, die das Mutterwerden und das Muttersein begleiten – von bedingungsloser Liebe und Glücksgefühlen, aber auch von den „finsteren“ Seiten der neu aufkeimenden Gefühlswelt, die sich durch Ängste, Schuldgefühle oder Ablehnung zeigen. Gleichnishaft spiegelt sich die vielschichtige Bindung zwischen Mutter und Kind im verwurzelten Organismus und mythischen Ort Wald wider.

Es ist bemerkenswert, dass in dem nur 190 Seiten langen Roman der Erzählfaden in dem dichten Gefüge nicht verloren geht. Es gelingt die Gratwanderung, die Lesenden mit einer stringenten Story durch die Irrationalität und erzählerische Mehrschichtigkeit des Textes zu führen. Die durchdachte Konstruktion verweist auf das dramaturgische Knowhow der Autorin. Jessica Lind ist Drehbuchautorin und Dramaturgin und hat etwa an Jessica Hausners preisgekröntem Film „Little Joe“ mitgewirkt. Sie ist im literarischen Fach schon mehrfach mit kurzen Prosatexten hervorgetreten; ihre filmische und literarische Arbeit wurde mit Stipendien und Preisen ausgezeichnet. Den vorliegenden Romantext hat sie aus einer gleichnamigen Kurzgeschichte entwickelt, mit der sie 2015 den Open-Mike-Literaturwettbewerb gewann.

Mit ihrem Romandebut ist ihr ein aus verschiedenen Genres schöpfender, in sich stimmig erzählter Text gelungen, der das Unheimliche im Fokus hat. Unterstützt von einer klaren, einfachen Sprache wird das Unbehagen beim Lesen gesteigert. Zudem ist der Text ein Gleichnis über die Mutterschaft, das mit psychologischem Feingefühl erzählt wird. Thematisch reiht sich das Buch damit in zeitgenössische Erzähltexte von Autorinnen ein, die sich auf vielfältige Weise mit dem Mutterwerden und Muttersein auseinandersetzen.

* Auch in der aktuell erschienenen Anthologie „Mutter werden. Mutter sein“ setzen sich 14 Autorinnen auf vielfältige Weise mit dem Thema Mutterschaft auseinander. Der Sammelband wird am 13.9. gemeinsam mit Jessica Linds Buch „Mama“ im Literaturhaus Wien vorgestellt.

Jessica Lind Mama
Roman.
Wien: Kremayr & Scheriau, 2021.
192 S.; geb.
ISBN 978-3-218-01280-5.

Rezension vom 06.09.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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