#Roman

Malus

Simone Hirth

// Rezension von Monika Vasik

Malus betitelt die Prosaschriftstellerin und Lyrikerin Simone Hirth ihren nunmehr vierten Roman, den sie im Nachwort all jenen Frauen widmet, die Opfer eines Femizids wurden, sowie jenen, die Gewalt erfahren haben oder noch immer erfahren.
Wollte man Gemeinsamkeiten von Simone Hirths vier Romanen benennen, dann könnte man sie als so lust- wie fantasievoll gestaltete Gegenmodelle zu herkömmlichen Lebensentwürfen bezeichnen: Eine Person fällt aus dem Rahmen ihres bisherigen Lebens und damit aus allen Beziehungsgefügen, und sie versucht zu lernen, sich im Neuen zurechtzufinden.

Der Titel spannt bereits das Gewebe auf, in dem sich die Kunstfigur dieses Romans bewegt. Das Wort Malus kommt aus dem Lateinischen und ist männlichen Geschlechts. Als Nomen bezeichnet es den Apfelbaum und steht botanisch für eine immense Artenvielfalt dieses Kernobstgewächses. Als Adjektiv wiederum wird es mit schlecht, böse oder schädlich übersetzt, was uns zum Beispiel aus dem Versicherungswesen geläufig ist, wenn nach einem Schadensfall die zu zahlende Prämie erhöht wird. Die Verbindung dieser beiden Bedeutungen wiederum finden wir im bekannten Stabreim „Omne malum ex malo“ („Alles Übel/Unheil kommt vom Apfel“), ein Spruch, der auf die biblische Schöpfungsgeschichte verweist. Eva habe, verführt durch die Schlange, eine Frucht vom Baum der Erkenntnis gegessen „und sie gab auch ihrem Mann, der bei ihr war, und auch er aß“, wie es im 1. Buch Mose heißt.
Hier ist nicht von einem Apfel die Rede, sondern verewigt ist das Wort „Frucht“ und es hat sich wohl eher um eine Feige, einen Granatapfel oder eine andere exotische Frucht gehandelt, so man das Paradies im Zweistromland verortet, wie es Expert:innen tun. Einerlei, Gott bestrafte den Sündenfall umgehend mit der Vertreibung aus dem Paradies, dem Verlust paradiesischer Privilegien sowie mit der Sterblichkeit des Menschen. Und Eva wurde in der Bibel bis in alle Ewigkeit als raffinierte Verführerin gebrandmarkt, der die Täterschaft für alle Sünden der Welt zugeschrieben wurde, was wiederum Künstler:innen über Jahrtausende inspirierte, sich mit diesem Urmythos der Schöpfungsgeschichte zu beschäftigen.

Simone Hirth schreibt nun die Geschichte dieses Sündenfalls um. Gleich zu Beginn stellt sie klar, dass sie an den weniger wichtigen ikonografischen Zuschreibungen nicht zu rütteln gedenkt: „Lassen wir es einen Apfel sein. Keine geheimnisvolle exotische Frucht“, schreibt sie im Prolog ihres Romans. Aber sie wird Evas Geschichte aus dem patriarchalen Ballast schälen und aus heutiger, weiblicher Sicht erzählen. Gezeichnet wird keine Verführung und kein durch äußere Umstände erzwungenes Herausfallen aus einem Beziehungsgefüge, sondern Hirth stellt die bewusste Entscheidung Evas, sich aus einer langweiligen Partnerschaft im Paradies zu befreien, ins Zentrum ihres Buchs und die Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Evas Entscheidung folgt keiner Laune des Zufalls oder der Verführungskunst einer Schlange, sondern der reiflichen Überlegung, dass ihr das Leben im Garten Eden zu wenig ist. Das Paradies sei eine Farce, Adam ein Feigling, der Sex wenig erfüllend und die Sache mit Gott ohnehin eine eigene Geschichte. Eva ist praktisch veranlagt und als sie ihre Nacktheit erkennt, näht sie sich ein Kleid. Um für das Leben außerhalb des Paradieses gerüstet zu sein, nimmt sie einen Vorrat an Äpfeln mit und macht sich Gedanken über ihr selbstbestimmtes Sein in der neuen Welt, in der sie Ausweise und eine Krankenversicherung, eine Wohnung, Arbeit und ein Auskommen brauchen wird.

Außerhalb des Paradieses liegt eine feindliche Ödnis, die Eva durchquert, um im Jahr 2023 im Bahnhof Meidling und schließlich in der nahen öffentlichen Bücherei zu landen. Und hier gelingt Simone Hirth ein Kunstkniff, indem sie die beiden Teile der Bibel, das Alte und Neue Testament, kongenial verbindet. Denn Eva trifft auf die Bibliothekarin Magdalena. Maria von Magdala, benannt nach ihrem Geburtsort am See Genezareth in Galiläa, meist Maria Magdalena genannt, war eine der wenigen Frauen um Jesus. Sie wurde als einzige Frau neben der Gottesmutter Maria in allen vier Evangelien namentlich genannt und gilt heute als eine der bekannteren Heiligen der katholischen Kirche. Um ihr Leben und Wirken entwickelten sich zahlreiche Legenden. Die traditionelle Kirchengeschichte zeichnete sie oft als verruchtes Weib, als Verführerin und Prostituierte, aber auch als reuige Sünderin, als Liebende und Leidende, Zuschreibungen, die in einer Vielzahl künstlerischer Arbeiten verewigt wurden. In den Schriften des Neuen Testaments ist sie eine Jüngerin Jesu und steht für die Liebe zum Gottessohn sowie dessen Liebe ihr gegenüber. Manche vermuten gar, sie sei dessen Frau gewesen.

Die Magdalena in Hirths Buch allerdings hat Jesus, die Enge dieser Beziehung und damit auch das Neue Testament schon vor längerer Zeit ver- sowie den Beinamen Maria hinter sich gelassen und sich in Wien ein eigenständiges Leben aufgebaut. Sie blüht auf in ihrer Arbeit als Bibliothekarin, bewohnt ein kleines Appartement, in dem sie sich gelegentlich mit Liebhabern vergnügt, und besitzt einen Kleingarten, in dem sie ihre freien Tage verbringt. Magdalena wird enge Freundin und Vertraute, die als Ersatzmutter und rettender Engel Eva unter ihre Fittiche nimmt, ihren Schützling bei sich wohnen lässt, sie kleidet, sich ums Essen kümmert und ihr hilft, sich in der neuen Welt zurechtzufinden. Dies ist umso nötiger, als Eva sich scheiden lassen will und obendrein bemerkt, dass sie von Adam schwanger ist. Magdalena organisiert eine Anwältin sowie eine private Hebamme und die Frauen stehen Eva bei. Gebären wird sie allein, denn ihr Sohn kommt durch eine Sturzgeburt zur Welt. Es ist eine Laune des Zufalls, dass er nicht den Namen Kain erhält, wie von Adam gefordert, sondern den Namen Kai.

Nicht zuletzt spielt die Schlange eine Rolle in diesem modernen Märchen. Sie hat Eva bei ihrem Weggang aus dem Paradies begleitet und taucht immer wieder auf, mal beobachtend, mal kommentierend. Und sie wird zum symbolischen Bindeglied des ersten Menschenpaars. Denn sie steht einerseits wegen ihrer Fähigkeit zur Häutung für das sich selbst erneuernde Leben, andererseits wegen ihres potenziell tödlichen Bisses für das lebensbedrohlich Böse. Zudem finden wir im Buch ein Bild der griechischen Mythologie, nämlich den von einer Schlange umwundenen Äskulapstab, bis heute das Symbol für medizinische und pharmazeutische Berufe. Auch Visionen von Scheiterhaufen tauchen auf und lassen an die Verfolgung und Ermordung unbotmäßiger Frauen durch die katholische Kirche in früheren Jahrhunderten denken.

Eva wird in der Wartezeit bis zur Geburt zu einer Lesenden, hat das Gefühl, lesen zu müssen, um „standzuhalten“, um „Worte und Kräfte zu sammeln“ und gerüstet zu sein für ihr neues Sein und die Auseinandersetzungen mit Adam. Auch die Schlange rät ihr, sich durch andere Geschichten hindurchzulesen, um der eigenen Geschichte zu entkommen. Es sind bekannte Bücher von Autorinnen, Prosa und Lyrik, die im Anhang noch einmal aufgelistet werden und Positionen und Erlebnisse aus weiblicher Sicht verhandeln. In der Tat stellt sich die Frage, ob die Literatur Einfluss auf unser kritisches Denken und Verhalten hat und ob dieses anders und Frauen selbstgewisser wären, wäre der Kanon weiblicher und würden wir mehr engagierte Literatur von Frauen lesen. Allerdings geht das Buch nicht über ein Name-Dropping und die Behauptung hinaus, Eva hätte diese Bücher tatsächlich gelesen, denn sie denkt weder über die Lektüre nach noch wird diese Gesprächsstoff zwischen den Freundinnen, was ein wenig schade ist, denn beide wären ausreichend sprachmächtig, sich mitzuteilen.

Als Gegenspieler stehen den Frauen das Patriarchat und toxische Männlichkeit in der Person Adams und in den Interventionen Gottes gegenüber. Adam gilt als Urvater der Menschheit. Gott hat ihn aus Erde geformt und ihm Atem eingehaucht. Eva hingegen entstand der Genesis nach aus dieses Mannes Rippe, was sie untrennbar zu einem Teil Adams macht. Deshalb wird er ihr das Beharren auf Trennung und die eigene Selbständigkeit niemals verzeihen. Für Adam ist Eva die allein Schuldige am Sündenfall und an der Vertreibung aus dem Paradies. Er und Gott sind sich einig, dass Eva es ohne sie in der Welt nicht schaffen kann und wird.

Es entwickelt sich eine klassische Stalkinggeschichte, denn Adam und Gott stellen ihr nach, terrorisieren sie auch mit SMS und Briefen. Adam ist von zunehmendem Hass getrieben. Als er Eva aggressiv bedroht, scheitert ihr Versuch, ihn bei der Polizei anzuzeigen, weil man ihr nicht glaubt und handfeste Beweise für Adams Gewalttätigkeit verlangt, die sie nicht liefern kann. Auch das Scheidungsverfahren geht zu Evas Ungunsten aus. Das gemeinsame Sorgerecht und ein umfassendes Kontaktrecht Adams wird ohne Rücksicht auf Praktikabilität und die Bedürfnisse von Mutter und Kind festgeschrieben. Eva ist in ihren Gefühlen gespalten und voller Zweifel, denn sie hat Angst vor Adam, ist aber zugleich bereit, ihm eine aktive Vaterrolle zuzugestehen. Als Eva zum erste Mal nach der Geburt allein ist, dringt ihr Ex-Mann in die Wohnung ein und tötet die Mutter seines Kindes.

Und so wird Simone Hirth zur Schöpferin, die die biblische Geschichte umschreibt. Adam ist deren erster Mörder, der einen Femizid zu verantworten hat, und nicht Kain, der seinen Bruder Abel umbringt. Kai bleibt ohne Geschwister, denn es kann und wird von diesem Paar keine weiteren Kinder geben. Die Utopie einer friedlichen Weiterschreibung der weiblichen Schöpfungsgeschichte klingt im Epilog an, wenn Magdalena sich liebevoll um das Neugeborene kümmert und bei Gericht die alleinige Obsorge beantragt.

 

Monika Vasik, geb. 1960, Studium der Medizin an der Universität Wien, Promotion 1986; Lyrikerin, Rezensentin, Ärztin; Literaturpreise u. a. Lise-Meitner-Preis 2003, Publikumspreis beim Feldkircher Lyrikpreis 2020; Mitbegründerin und bis 2022 Mitverantwortliche der Poesiegalerie; mehrere Lyrikbände, zuletzt: hochgestimmt (Elif Verlag, 2019) und Knochenblüten (Elif Verlag, 2022). www.monikavasik.com

Simone Hirth Malus
Roman.
Wien: Verlag Kremayr & Scheriau, 2023.
176 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag.
ISBN: 978-3-218-01410-6.

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Rezension vom 06.10.2023

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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