#Prosa

Macht euch keine Sorgen

Lydia Mischkulnig

// Rezension von Silvia Sand

Beziehungen zwischen Menschen stehen im Mittelpunkt des neuen Erzählbandes von Lydia Mischkulnig, dessen Untertitel „Neun Heimsuchungen“ eine Anbindung an die „Sieben Versuchungen“ von 1998 darstellt. Zwischen der Versuchung und der Heimsuchung besteht kein großer Unterschied, hätte man doch so manche Versuchung schon als Heimsuchung bezeichnen können.

Die 1963 geborene, mehrfach ausgezeichnete Autorin interessiert sich für schwierige Verhältnisse auf zwischenmenschlicher Ebene – sie kennt ihre Figuren bis ins kleinste Detail, nichts entgeht dem unbarmherzigen Blick und keine/r entgeht sich selbst. In dieser Haltung ist sie sich treu geblieben, und während der Schwerpunkt der „Versuchungen“ von 1998 in der Jugend, der Leidenschaft und der Beziehung zwischen Mann und Frau lag, gehen die „Heimsuchungen“ 2009 von Tod, Schicksal, Zufall, von Ahnungen oder Erinnerungen aus.

Lydia Mischkulnig sammelt, was sie sieht und hört zwischen den Menschen und schreibt es – meist als Ich-Erzählerin – auf. Dieses notwendige Aufschreiben dokumentiert sie in mehreren Erzählungen: „Ich saß da und verankerte mich auf Papier. Hergesetzt und hingeschrieben, dass ich mir Halt verschaffte, indem ich aufschrieb, was ich sah, hörte, was mir auffiel, selten, was mir einfiel – denn mir fällt nichts ein, wenn ich meine Verlorenheit nicht fassen kann.“ („August eleven“, S.76f)
In der detailreichen Beobachtung kommt ihr die Ironie zu Hilfe, denn wenn man den Menschen nahe rückt, sieht man meist zu viel von ihnen oder von innen. Mit dem Außenraum wie etwa einer Landschaft hat die Autorin nichts am Hut, allerhöchstens sitzt jemand im Park oder in einer auf sich beschränkten Stadtlandschaft, wo „…die Gefühle mit ihren Bildern in Beton gespeichert sind…“ (S.96).
Manche Erzählungen nehmen sich daher wie kleine Kammerstücke aus, in denen Menschen auf engem Raum ihrer Fixierung aufeinander kaum entkommen: die Alleinerzieherin und ihre Kinder in der Wohnung („Ausgesorgt“), die beiden Frauen im Krankenhauszimmer („Herzilein“), das Liebespaar am Bahnhof („Türen schließen“), die Chefin und ihre Volontärin auf der Wiese („Untergang einer Hauptperson“), die Aushilfskraft und ihre Kundin in der Putzerei („Viewing“), die Erzählerin und ihre wechselnden Begegnungen am Union Square („August eleven“). Aus jeder dieser Erzählsituationen entwickelt sich ein kleines Drama im Wechselspiel von Enge und Distanz.

In „Ausgesorgt“ geht es um die Ängste der alleinerziehenden Mutter, die im Gespräch mit der Nachbarin aufgewühlt werden. Zurück in der eigenen Wohnung kann sie nicht umhin, sich und ihre Handlungen zu analysieren, als könne sie sich selbst nicht trauen, als müsse sie sich die eigenen Kinder vom Leib halten, um sie nicht mit „mulmigen Gefühlen“ zu erdrücken. Die Angst hält sie mit ritualisierten Gesten nieder: „Sie setzte Handlungen gegen abstrakte Begriffe ein, die Kinderseelen töten …“ (S.10).
Die Analyse der Gefühle hält auch die Ich-Erzählerin von „Herzilein“ in Schach, die mit einer alten Dame eine Nacht im Krankenzimmer verbringt. Einerseits bietet ihr die zugeteilte Zimmergenossin einen Tag lang Unterhaltung, indem sie sie an ihrer Situation teilhaben lässt, andererseits will die Erzählerin die innere Distanz wahren. „Mach dir keine Sorgen“, sagt die besuchende Tochter zur alten Mutter, die in derselben Nacht einen unvermuteten Tod stirbt. Während die Ich-Erzählerin peinvoll mit dem Schlaf ringt, ergibt sich die Frau neben ihr scheinbar kampflos dem Tod. „Beneidenswert, sagt der Arzt, wenn man bedenkt, was für eine Gewalt der Tod sonst hat.“ (S.34) Dass die Erzählerin als Fremde an diesem letzten Lebenstag der Frau vielleicht mehr an ihr erkannt hat als deren Verwandte und Freundinnen, erscheint dabei als Ironie des Schicksals.

Selbst die einzige „Liebesgeschichte“ des Buches – „Türen schließen“ – kennt keine Hingabe an Gefühle. Das Liebespaar „dosiert“ und „rechnet“ innerlich, während es sich einer äußerlich sichtbaren Hingabe befleißigt. Es ist einer der Höhepunkte von Mischkulnigs Erzählkunst, wie sie das Paar in die Falle der eigenen Selbstinszenierung lockt, die durch einen kleinen Regiefehler des Zufalls gnadenlos entlarvt wird.
In „Untergang einer Hauptperson“ wird in Anspielung auf ein bekanntes Möbelhaus eine satirische Firmengeschichte erzählt, in der die Corporate Identity zur Corporate Eternity mutiert. Auch die Erzählung „Die Firma“, in der die Firma selbst erzählt („Ich bin eine Firma …“ S.15), trifft die Autorin sehr genau die Schwachpunkte der menschlichen irdischen Wünsche, die ausgenutzt werden, um Frau und Mann ins Arbeitsleben einzugliedern und zu beugen. „Um mich mache ich mir keine Sorgen, ich verschwinde und formiere mich neu, wo und wann ich will. Aber die Angestellten mit ihrem fixen Leib sind an Ort und Zeit gebunden und werken mit diesen Koordinaten herum, im Hier und Jetzt, die Existenz will berechtigt sein.“ (S.18)

Den möglichen Schlüssel zu ihrer Schreibhaltung bietet uns Lydia Mischkulnig in der Erzählung „Begegnung im Gebiet“ an, sofern man in diesem Fall die Ich-Erzählerin mit der Autorin gleich setzen darf. Hier geht es um Erinnerung an die Kindheit, um die Vertreibung aus der postkartenschönen Landschaft in die Stadt. Die Landidylle ist durch die Borniertheit ihrer Bewohner unerträglich geworden, auch wenn die Bewohner die eigene Familie sind oder besser: weil sie die eigene Familie sind. „Vielleicht ist Schreiben babylonisches Wurzelziehen, um die Postkartenstille meiner Erinnerungslandschaft zu durchdringen – um zum Ton zu gelangen, der mich ausmacht.“ (S.99).

Lydia Mischkulnig Macht euch keine Sorgen
Neun Heimsuchungen.
Innsbruck, Wien: Haymon, 2009.
110 S.; geb.
ISBN 978-3-85218-583-5.

Rezension vom 29.04.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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