#Roman

Lusthaus oder die Schule der Gemeinheit

Franzobel

// Rezension von Walter Wagner

In den Kapuzinerkatakomben von Palermo liegen 8000 einbalsamierte, bekleidete Leichen, moderne Mumien, die längst ihre Himmelfahrt angetreten haben. Sollte man meinen. Unter den Toten befindet sich der ausgestopfte Leichnam der zweijährigen Rosalia Lombardo, deren Seele, 1920 dem Kind entfahren, noch nicht zur Ruhe gekommen ist und sozusagen eine Zwischenlandung in Frau Klappbauch einlegt, nachdem diese die Totenstadt besucht hat.

Herr Klappbauch, Gründer der Sieben-Tags-Adventisten ist mit seiner Nachbarin Pasqualina verfeindet, einer argentinischen Emigrantin, die im Reisegepäck die Urne mit der Asche ihres verstorbenen Vaters mitgebracht hat. Dieser wiederum floh in den 50er Jahren unter dem falschen Namen Alfred Tonymontana aus Österreich und vor seiner Nazivergangenheit.
Pasqualinas Landsmännin Conchita lebt mit dem Chilenen Seth und heiratet ihn nur, um zur Aufenthaltsgenehmigung zu kommen.
Die Venezulanerin Mariella liebt ihren Freund Manker ebenso wenig. Dafür betrügt Conchita ihren Gatten mit Zsmirgel, und Manker befriedigt sich an einer Billa-Pappfigur, die Braunauer Most aus ihrem Geschlecht spritzt.

So viel steht fest: Es geht um Beziehungen und das lästige braune Stigma, das vielen Landsleuten in der sonst so ereignislosen Alpenrepublik anhaftet. Dabei ist die ganze Wahrheit noch nicht erzählt. Zsmirgel verfasst nämlich im Voraus Nekrologe, an denen die Betroffenen kurz darauf zugrunde gehen. Nebenbei ist er in ein dunkles Geschäft mit einem Nigerianer verwickelt, der ihm plötzlichen Reichtum verschaffen soll.
Tonymontana soll den jungen Klappbauch seinerzeit „dort im Prater beim Lusthaus“ gezwungen haben, den Boden abzulecken. Um ein Haar hätte er ihn erschossen – ein Trauma, das Klappbauch in die „Résistance“ trieb. Hier meint Franzobel wohl den banaler klingenden „Widerstand“. Einerlei, der Leser versteht und fügt das Puzzleteil geduldig in die verschlungene Handlung ein.
Anspielungsreich fährt die Erzählerin Rosalia Lombardo fort, berichtet, wie Pasqualina die väterliche Asche auf dem Heldenplatz – wo sonst? – verstreut und dabei zwei Funktionäre der Freihäuslichen Partei im Gesicht trifft. Irenäus Raubein, Führer nämlicher Fraktion, und seinem Klubobmann Peter Leibenfrost verschlägt es die Stimme. Was nach einem Attentat aussieht, entpuppt sich als Zufall: „Am Schluß war es das Eigene, das Selbst, das einen vernichtete. Der Stein vernichtete den Versteinerten, Asche den Verbrannten, Eitelkeit den Eitlen, und der Nazi vernichtete die Nazis, Österreich die Österreicher.“

Franzobels manifeste Kritik an der österreichischen Seele kommt zwei Jahre nach dem Rechtsruck der Regierung nicht zur Unzeit, fügt substanziell indessen auch nichts hinzu. Sie drängt sich auf und wiederholt, was jene, die Lusthaus aufschlagen, zur Genüge gehört haben. So geht sein sprudelnder Kelch samt Wortwitz an jenen vorüber, denen er eigentlich zugedacht ist. Ein Schicksal, das Alfred Goubrans und Helmut Eisendles jüngste Veröffentlichungen zum Thema wohl teilen.
Worin sich der vorliegende Autor von den eben erwähnten unterscheidet, ist der inzwischen zum Markenzeichen gewordene Franzobel-Duktus, der Sprache überaus lustvoll zelebriert, ja Saturnalien der Fantasie auslebt, wenngleich mitunter der Verdacht aufkommt, dass hier eine Feder schreibt, die sich allzu bereitwillig der écriture automatique überlässt. Die sich der Diskursivität entzieht und einem führerlosen Wagen gleich über die steile Böschung einer Seite rollt: „Feuer bewahrt sich selbst inmitten seines Brennens, es ist auch im Nichtbrennen Feuer. Brennen ist Nichtbrennen und Nichtbrennen ist Brennen. Und mitten im Feuer ist Nichtfeuer, wie mitten im Nichtleben Leben ist.“
Ein talminer Aphorismus, der wie viele Bemerkungen des Erzählers oder der Figuren sich selbst genügt und keiner rationalen Erklärung bedarf. Absurdes, das sich ernsthaft gibt, wechselt mit Profundem, das jäh ins Groteske umschlägt, wo es endgültig Platz nimmt: „Manche sind gefangen in den Lebensmustern ihrer Eltern, andere im Physischen. Seths Vater hatte die Riesenporen von seinem Vat geerbt. So groß, daß man Dübel reinstecken konnte – oder Zigaretten.“

Wer mit dem hypertrophen Sprachzauber des Romans nicht zurechtkommt, der möge von einer Lektüre Abstand nehmen, denn nichts ärgert den Schreibenden mehr, als missverstanden zu werden.
Es ist, was es ist. Ein Franzobel. Nicht mehr, nicht wuchtiger als seine Vorgänger. Ein treuer Wiedergänger, der nicht davor zurückschreckt, auf seinem assoziativen Raubzug die biblische Geschichte zu revidieren: „Pasqualina erschrak wie die Jünger, als sie das Grab Jesus öffneten und nichts mehr fanden.“
Übrigens: Rosalia Lombardos Seele fuhr gen Titan. Nach ihrer Erlösung, versteht sich.

Franzobel Lusthaus oder die Schule der Gemeinheit
Roman.
Wien: Zsolnay, 2002.
176 S.; geb.
ISBN 3-552-05180-5.

Rezension vom 29.04.2002

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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