#Lyrik
#Debüt

Luciferin

Angelika Rainer

// Rezension von Roland Steiner

Titelgeber dieses auf inhaltlicher wie sprachlicher Ebene außergewöhnlichen Buchdebüts ist der Leuchtstoff von Glühwürmchen. Die kleinwüchsige Protagonistin Lucy sammelt sie in Rexgläsern zur Paarung und trocknet die Leichen, um ihr Licht für sich zu bewahren. Ein Licht, das ihr Trost spendet und über den harten Winter hilft, ein Licht, in dem Luzifer sie dem Schrecken der Nacht entreißt. Von John Bergers Erzählung „Die drei Leben der Lucie Cabrol“ (aus dem Erzählband Sauerde) ausgehend, beharrt auch Angelika Rainers von Familie und Dorf verstoßene Zwergin auf einer fernen Liebe, kraft deren Erfüllung sie zum Leben gelangte.

Zitate von Mayröcker bis Ovid finden sich in den sechs lyrischen Annäherungen an die Heldin. Während Leuchtkäfer in der Dämmerung mittels Sauerstoff ihre Paarungsbereitschaft signalisieren, bieten Lucys Nächte bloß Sehnsucht nach Signalen, die sie einzig der Natur abtrotzen kann. Den dritten Frühling von ihrem „Philemon“ getrennt, trägt die zur Schande ihrer Brüder verwundete Aussätzige den Mist auf Felder, Heu von Hängen und wärmenden Torf in ihre karge Bleibe, eine Vierkantruine am Fuß eines Alpenberges. Unbesucht häutet sie ihre Hasen alleine, trinkt Wein, isst Schokolade und raucht Selbstgedrehte zur „Musik der kleinen Planeten“. Den Mikrokosmos an Natursensationen kontrastiert die 1971 in Lienz geborene Autorin und Harfenistin in ihrer hoch musikalischen und bildreichen Sprache mit Lucys Besuch eines Dorffestes, wo die Aussenseiterin erneut von der Gemeinschaft abprallt. Die nicht getroffenen (Glasur-)Herzen kauft sie sodann. Doppeldeutig gesetzte Ausdrücke wie „Prinzenkeks“ und „Baiser“ markieren das ungefähre Jetzt einer sonst zeitbezugslosen Erzählung.

Kein schöner Land, diese dunkle Alpenenklave, sodass Angelika Rainer der sich nach Licht verzehrenden Frau fernere Assoziationen zuspricht. Geografische, teils mythische Bezüge (allein deretwegen lässt sich das Buch mehrmals lesen) flicht sie neben Rückverweisen auf John Berger in ihren Visionsgesang. Vom biblischen Land Nod, in dem sich Lucy wohnhaft wähnt, über das arktische Grinelland hin zum sibirischen Fluss Jennesey erträumt sie sich (voller Angstlust?) eine phantastische Lebensbahn. Diese Vorgeschichte der Licht- und Bildersammlerin deutet die Autorin ebenso bloß an, wie viele ihrer Naturbetrachtungen und psychogrammatischen Rekonstruktionen weiten Interpretationsspielraum erlauben. Manches Motiv bleibt dunkel oder rätselhaft, trotzdem erreicht das kaum 80 Seiten fassende lyrische Portraitmosaik eine große Dichte: „Meine Geschichte zu erzählen braucht die Zeit, die ich bei den Lebenden war. Die Geschichte vom Zwerg soll den Zwerg nicht überragen.“

Angelika Rainer ist ein seltenes Beispiel genau komponierter Literatur gelungen, die gleichzeitig Empathie ermöglicht und eigene Bildspeicher öffnet. Ein Staunen machendes Buchdebüt, auf das man sich am besten dort einlässt, wo das (Leuchtkäfer-)Licht atmet – in sauerstoffreicher Natur.

Luciferin.
Lyrische Erzählung.
Innsbruck, Wien: Haymon, 2008.
76 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-85218-560-6.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 23.04.2008

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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