Ein besonderes Anliegen ist diese Außenperspektive Vladimir Vertlib. In einer Überschrift seiner Dresdner Chamisso-Poetikdozentur beschreibt er sich als „deutsch schreibender jüdischer Russe, der zur Zeit in Österreich lebt“. Als er in den 90er Jahren von Wien nach Salzburg umzog, meinte er in einem Interview mit Wolfgang Malik: „Ein Wiener Künstler befindet sich vermeintlich im Zentrum des Kulturlebens des Landes, meint, er wäre am Nabel der Welt, verliert aber die Außenperspektive […]“. Diese Außenperspektive macht Autoren wie Vertlib auf eine besondere Art offen für die Wahrnehmung des Status quo. Es werden Sachverhalte thematisiert, die sonst eher marginalisiert werden. Das macht Vertlib zu einem Zeitschriftsteller, wie er bereits vom „Jungen Deutschland“ gefordert wurde, zu einem, der die Verwerfungen der Gegenwart sichtbar macht.
Das gilt auch für den neuen Roman Lucia Binar und die russische Seele. Drei eher dunkle Motti aus Werken von Shakespeare, Mandelstam und Çirak stehen der Erzählung voran, die von Ereignissen in drei Fühlingsmonaten (März, April, Mai) zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Wien berichtet. Zunächst erzählt die 83jährige pensionierte Lehrerin Lucia Binar. Sie ist verwitwet, hat zwei Kinder, die „schon seit Jahren nicht mehr in Wien leben“, E-Mails schicken und “höchstens einmal im Monat bereit sind” mit ihr zu skypen. Frau Binar ist nach einem Unfall rekonvaleszent, kommt an ihre geliebten Gedichtbände nicht heran und möchte in der Großen Mohrengasse in Wien-Leopoldstadt, in der sie seit ihrer Kindheit wohnt, auch sterben. Ihr Leben wird zur Hölle gemacht durch die Profitgier des Hausbesitzers Willi, der rücksichtslos versucht, die Mieter aus der Immobilie zu vertreiben, um diese zu „entwickeln“. Willi lässt das Haus herunterkommen, quartiert Flüchtlinge, Obdachlose und zwielichtige Gestalten ein und lässt sich dafür von der Stadt bezahlen. Die Zustände sind haarsträubend, und hätte Frau Binar nicht passende Gedichtzeilen parat und erstaunliche Energie, wären sie nicht auszuhalten. Im Haus wohnt auch der aus Oberösterreich stammende Student Moritz, ein androgynes Bürschchen, das in der Polizeischule Jiu Jitsu gelernt hat. Er möchte Lucia Binar für eine Umbenennung der Großen Mohrengasse gewinnen. Das Vorhaben verläuft zunächst sehr komisch, doch die Umstände machen aus den beiden schließlich ein Paar, das den widerlichen Verhältnissen den Kampf ansagt. Dabei macht es sich auch auf die Suche nach Elisabeth, einer Mitarbeiterin eines Callcenters, die der gehbehinderten Frau Binar beim Ausbleiben der „Essen auf Rädern“-Lieferung geraten hat, sich von Knäckebrot und Mannerschnitten zu ernähren. Elisabeth hat bei einem seltsamen Liftunglück Alexander kennengelernt, der war „mütterlicherseits baschkirischer Herkunft. Sein Vater war zur Hälfte Tschuwasche und zur Hälfte Deutscher“. Damit sind wir beim zweiten Strang des Romans, der von einem unbeteiligten Erzähler berichtet wird und teilweise in Russland spielt. Die wichtigste Figur darin ist ein russischer Magier namens Viktor Viktorowitsch Vint. Das klingt jetzt alles kompliziert, ist allerdings traditionell erzählt und bereitet beim Lesen keinerlei Verständnisprobleme, nur Vergnügen und Lachkrämpfe, trotz der hier in Österreich wie in Russland angesprochenen menschlichen und gesellschaftlichen Abgründe. Diese Abgründe sind nationenübergreifend und ihre Erzählung macht das Konzept einer klar abgegrenzten Nationalliteratur fragwürdig.
Vladimir Vertlib benennt als Quelle seines Schreibens „Emigrationserfahrungen und Familienlegenden“. Das wird wohl zumindest teilweise auch auf „Frau Binar und die russische Seele“ zutreffen. Dazu tritt augenscheinlich als Inspiration die Literatur. In diesem Fall sind es zum einen die Lyriker, die am Ende des Romans aufgelistet werden und vor allem von Lucia Binar und Viktor Viktorowitsch Vint zitiert werden, zum anderen Michail Bulgakows Klassiker „Der Meister und Margarita“. Wie Bulgakow lässt Vertlib seiner Phantasie freien Lauf und sie Kapriolen schlagen, um der Starre des Systems entgegenzutreten. So gipfelt Vertlibs Roman in einer von Bulgakow her bekannten Vorstellung des Magiers. Bei Vertlib freilich soll dabei nicht auf transzendentale Mächte verwiesen, sondern bloß das Absurde der Gegenwart sichtbar gemacht werden. Dieses Absurde zeigt sich mitunter plakativ, aber konkret. So heißt es über die Republik Österreich: „… dieses Land hat längst keinen Kaiser mehr, aber eine richtige Republik im Sinne von Res Publica ist es deshalb noch lange nicht. […] Wie sollen sie es denn sonst nennen, Maestro? Plutocratia Austriaca? Austria – Owned By The Happy Few? Kartellverband Österreich? Oder vielleicht einfach nur Bundesstaat Österreich, wie es schon einmal geheißen hat?“
Vladimir Vertlib lässt tatsächlich reichlich unsinnig aussehen, was wir hier aufführen…