Salomé wuchs in einer begüterten, in St. Petersburg ansässigen Familie auf (Vater: baltische Adelsfamilie; Mutter: Hamburger Patrizierfamilie) und zeigte schon früh außerordentliches Auffassungsvermögen und vielerlei Begabung. Im Rückblick bezeichnete die Schriftstellerin ihre Kindheit als schmerzhaft, da sie sich innerhalb der Familie isoliert fühlte und vor allem unter der emotionellen Kälte der Mutter litt. Als junges Mädchen entfloh sie der Einsamkeit – direkt in die Arme eines protestantischen Predigers. Hendrik Gillot (so hieß dieser erste Unglückliche in Lous Leben) forderte das junge Mädchen intellektuell, indem er sie in die Welt der Religion und der Philosophie einführte, und verliebte sich auch prompt in sie. Zwar gefiel Lou das verliebte Getändel und harmloses Schoßsitzen während der Lehrstunden, seinen Heiratsantrag lehnte sie jedoch brüsk ab (und floh daraufhin sogar in die Schweiz). Schon in dieser ersten bedeutenden Episode in Salomés Leben zeigt sich das Muster, das sich fortan oftmals wiederholen wird: Salomé taucht auf, verdreht der männlichen Gesellschaft mit ihrem scharfen Intellekt, der (gespielten?) Naivität und ihrer Selbständigkeit und Schönheit den Kopf, hält jedoch ihrerseits (zumindest bis in ihre dreißiger Jahre hinein) stets eine gewisse Distanz: So auch bei ihrer nächsten Eroberung, dem Maler Paul Rée, dann bei Friedrich Nietzsche, später bei dem Politiker Paul Ledebour und so weiter und so fort …
Schon in sehr jungen Jahren suchte Salomé die intellektuellen Zirkel Europas – und fand, dank ihrer außerordentlichen Begabung schnell Zugang. 1882 (gerade 21 Jahre alt) begegnet Salomé Friedrich Nietzsche, der sie als die einzige Person preist, die seiner Philosophie intellektuell gewachsen sei. Die Begegnung mit ihm und seinem Werk wird – wie später bei Rilke oder Sigmund Freud – auch seinen Niederschlag in ihrem schriftstellerischen Werk finden. Von den vielen Stationen ihres Lebens seien hier nur einige weitere genannt: Mit Paul Rée lebte Salomé 5 Jahre in einer Wohn- und Arbeitsgemeinschaft in Berlin, ehe sie ihren Ehemann Friedrich Carl Andreas kennenlernte, mit dem sie – wie mit Rée – zeitlebens eine platonische Beziehung geführt haben soll. Gegen Ende des Jahrhunderts schloß sie zur Abwechslung auch mal mit Frauen Freundschaften, unter anderem auch mit expliziten Feministinnen (wie Frieda von Bülow), deren Meinungen zur Frauenfrage Lou jedoch nur selten teilte.
Ein Highlight ihres Lebens natürlich auch ihre Beziehung zu Rainer Maria Rilke. Und schließlich die Beschäftigung mit der Psychoanalyse: Andreas-Salomé durfte als einzige Frau an den Mittwoch-Diskussionen bei Freud teilnehmen und genoß zeitlebens den höchsten Respekt des Meisters (eine Lebensfreundschaft verband sie später mit Anna Freud). Typisch für Salomé war dabei, daß sich die Schriftstellerin die neue Lehre zwar aneignete, sie aber für ihre Zwecke (unter anderem schriftstellerischer Art) verwendete und nie zu den Dogmatikern oder einem Jünger-Kreis zu zählen war.
Dies alles – und noch viel mehr – wird in dem kompakten Buch von Wiesner-Bangard/Welsch durchaus spannend erzählt. Problematisch wird die Biografie dort, wo sie sich zu sehr auf die Selbstaussagen der Beschriebenen stützt (oder stützen muss), Stilisierungen sind da offenbar nicht zu vermeiden. Ein Beispiel: Salomé hat ein Verhältnis mit dem Politiker Georg Ledebour; ihre Ehe mit Andreas steht an der Kippe. Laut Salomés Lebenserinnerungen wollen beide (sie selbst und ihr Ehemann) Selbstmord begehen – ein Vorhaben, das allein deshalb nicht ausgeführt wird, weil es ein „Veto Ledebours“ (S. 98) gegeben haben soll! Geht man mit dieser Darstellung nicht vielleicht der Autobiographin Salomé ein wenig auf den Leim? Nicht immer nachvollziehbar ist es auch, wenn die Autorinnen anderen Interpretationen von Salomé folgen. So heißt es auf Seite 88: „Die Ausklammerung der Sexualität in ihrer Ehe mit Andreas bewirkte aber auch, dass diese Verbindung durch Lous spätere Liebesverhältnisse mit anderen Männern nicht gefährdet werden konnte“ (eine Einschätzung von Salomé selbst, Jahre später). Zehn Seiten nach dieser Stelle wird die Ehe dann gleich nicht mehr ganz so reibungsfrei beschrieben: „Die Ausweglosigkeit der Situation [Lous Affäre mit Ledebour] und ihre existentiellen Kämpfe brachten Lou und Andreas an ihre psychischen und physischen Grenzen.“ (S. 98) Die Folge davon: der angebliche Selbstmordplan (siehe oben). Auch ob Andreas-Salomé tatsächlich eine „gute Menschenkennerin“ war, wie die Autorinnen behaupten (S. 39), ist zu bezweifeln.
Dass ein Buch über eine widersprüchliche Person wie Salomé in seiner Darstellung zum Widerspruch einlädt, sollte allerdings nicht weiter verwundern. Für jene, die bislang wenig über Salomés Leben wissen, ist die vorliegende Biografie sicherlich empfehlenswert. Schließlich kann man sie ja kritisch „gegenlesen“.