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Löwin auf einem Bein

Erika Wimmer Mazohl

// Rezension von Florian Dietmaier

Anfang März 2020 berichtet Die Welt von einem Sensationsfund, der „unser Geschichtsbild ändern“ könne: Ein Buch aus sechs Goldblättern, auf denen unter anderem etruskische Schrift zu finden sei. Sein Alter schätze man auf mehr als 2500 Jahre, was es zum ältesten Buch der Welt mache. Doch der Historiker und Archivar Karl Graf zeigt in seinem Archivalia-Blog, dass Die Welt einem Irrtum erlegen ist. Twitter-UserIn Incunabula hat zwei Tage vor Erscheinen des Welt-Artikels nämlich einen schon 2003 publizierten BBC-Beitrag über dieses Buch zitiert. Graf glaubt, dass der Welt-Autor den Tweet zum Anlass für seinen Artikel genommen hat.

Der Welt-Artikel wird bald vergessen sein und dennoch eine weitere falsche Spur im Internet hinterlassen. Vielleicht wird der virtuelle Boden einst so tief und schwer durchsuchbar werden wie der reale Boden, in dem Archäologinnen nicht nur die Farben für ein möglichst getreues Bild unserer Geschichte suchen, sondern meist erst die Rahmen und Leinwände dafür finden müssen. Sie sind sich bewusst, dass sie die Geschichte im Nachhinein nur aus einem lückenhaften Gedächtnis schreiben, oder um bei der Bildmetapher zu bleiben, malen können. Und dass sich unser Geschichtsbild meist nicht durch einen einzelnen Fund, sondern eher durch eine Veränderung unseres Blickwinkels während des Malens oder später im Betrachten des entstandenen Bildes wandelt.

In Erika Wimmer Mazohls neuem Roman Löwin auf einem Bein geht es unter anderem auch um diese komplexe und daher fehleranfällige Verbindung der erlebten Gegenwart mit einer zu interpretierenden Vergangenheit und umgekehrt.

Im Zentrum steht mit Ariane eine Archäologin, die sich auf die Etrusker spezialisiert hat. Sie stammt aus Südtirol und ist Funzionaria, Funktionärin im römischen Kulturministerium in der Abteilung für Archäologie. Bei einer Nachhausefahrt durch den zähen römischen Verkehr wägt sie die Bedeutung ihres Arbeitsfeldes, also der alten, verschütteten Geschichte für die Zeitgeschichte ab: „Was hatte das alles für einen Sinn, wie konnte man angesichts der immer größer werdenden Probleme im Land tausende Steinchen putzen, wie konnte man sich um alte Mauern kümmern?“ Im selben Gedankengang weiß sie jedoch auch, „dass die Fähigkeit, die Vergangenheit zu respektieren und zu schützen, eine gute Voraussetzung dafür [ist] , in der Gegenwart zu bestehen.“

Arianes Lebensgefährte Vittorio arbeitet als freier Journalist und damit mit und in der Zeitgeschichte. Der Boden, den er durchsucht, ist versumpft, da er vor allem über die Verbindung des organisierten Verbrechens mit der korrupten Politik schreibt, wobei „die Mafia-Strukturen des heutigen Italien [viel] mit den gesellschaftlichen Strukturen des alten Rom zu tun“ haben.

Arianes und Vittorios Beziehung hat zur Veränderung ihrer Blickwinkel geführt. Sie lässt vieles von dem, was Vittorio sagt, in ihre Arbeit einfließen, in die Art nämlich, wie sie den Gegenstand ihrer Arbeit betrachtet. So vertraut sie nicht mehr blind den „festgefahrenen Fachmeinungen“ und hat Erfolg damit: Sie ist eine begehrte Rednerin auf Kongressen und lernt gerade für eine ministeriumsinterne Prüfung um Responsabile, Verantwortliche für ihre gesamte Abteilung zu werden. Und Vittorio hatte wie „kein anderer […] die Gabe, von den antiken Stätten aus Parallelen zur Gegenwart zu ziehen, das Alte wie ein Blaupause über das Gegenwärtige zu legen und seine Schlüsse aus den vielen sich überlagernden Linien zu ziehen.“ Alte Geschichte und Zeitgeschichte verbinden sich für Ariane und Vittorio also fruchtbar.

Auch in Arianes Tochter Katja ist diese Verbindung vorhanden. Sie ist zum Beispiel Expertin für die Grabhügel der etruskischen Nekropole Banditaccia bei Cerveteri in der Nähe von Rom, weil sie Ariane oft zu deren Arbeit dorthin begleitet hat. Gleichzeitig ist sie politisch interessiert und nimmt an Demonstrationen teil. Doch Ariane fürchtet, dass Katjas Interesse an der Zeitgeschichte die Überhand gewinnt. So wird Katja die Zeit vom Gründonnerstag bis zum Karsamstag nicht wie gewohnt mit der Familie, sondern in Kalabrien verbringen: „Ariane wusste, es ging um die afrikanischen Erntesklaven, Katja glaubte tatsächlich seit einiger Zeit, sich darum kümmern zu müssen.“

Diese Veränderung hat, so glaubt Ariane, mit dem Tod von Katjas Großmutter, der Biologielehrerin Hedwig, eingesetzt. Katja hat in Bozen Kunst studiert und gemeinsam mit ihrer Großmutter gelebt, während Ariane in Rom geblieben war. Nach Hedwigs Tod beendete Katja das Studium, zog zurück nach Rom und begann Kunstgeschichte zu studieren; „das mit der Geschichte der Kunst sei ihr lieber als die Kunst selbst“. Das verwundert Ariane, hat Katja doch „seit Kindertagen unentwegt gezeichnet und gemalt, und in Bozen war sie als künstlerisch talentiert aufgefallen. Bilder entstehen lassen war Katjas Leidenschaft gewesen.“ Und es war auch ihre Verbindung zur alten Geschichte, mit der sich ihre Mutter beschäftigt.

Als Ariane „in Tarquinia das Projekt der Tomba dei Demoni Azzurri vorantrieb, kam es öfter vor, dass Katja […] dort Zeit verbrachte.“ Diese Zeit fließt in ihre Kunst ein. Ariane fragt sich eine Weile, was es mit den Stäben und Knüppeln mit Löchern auf sich hat, die Katja malt, bis sie drauf kommt, dass ihre Tochter „die Musikinstrumente der Etrusker“ malt, die sie in den Gräbern der blauen Dämonen gesehen hat. Als sie später menschliche und tierische Figuren malt, ähneln diese ebenfalls „den etruskischen Grabmalereien. Doch die längste Zeit verwendet sie auf die Darstellung von Raubkatzen, sie malt sie springend, tanzend und spie-lend. Löwen zu malen sei vielleicht das Schwierigste für Katja, scheint es Ariane.“ Während Vittorio festststellt, dass sie beide, Ariane und Katja, „doch auch zwei Löwinnen“ seien.

Im Gegensatz zur Löwin Ariane steht die Löwin Katja spätestens seit der Entscheidung, die Kunst für die Kunstgeschichte, das Malen für das Betrachten aufzugeben, auf einem Bein und droht die Balance zu verlieren. Dieses Bild, das den Romantitel bildet, betrachten wir aus Arianes Blickwinkel, als sie zu einer Demonstration in Rom fährt. Aus der Distanz sieht sie dort ihre Tochter. „Es war heiß, Katja stand in der Sonne und trat von einem Bein auf das andere“. Sie widersteht dem Impuls ihrer Tochter zu helfen, die sich auch gar nicht helfen lassen will, sodass ihr Kontakt kurzfristig abbricht. „Ariane geriet mehr und mehr in Rage. Sie fragte sich, weshalb sie dieses Verhalten so aufregte, und wusste darauf keine Antwort.“

Eine Antwort könnte sein, dass sie sich im Verhalten ihrer Tochter, also dem Ignorieren ihrer Mutter, selbst wiedererkennt. Die Löwinnen gleichen sich nämlich in diesem Punkt. So glauben Ariane und Vittorio, dass die nach dem Tod Hedwigs eingetretene Veränderung in Katja durch deren neuen Freund Renato noch verschärft, ja, dass Katja durch ihn radikalisiert wurde. Doch Ariane und Vittorio „ignorierten Renatos Existenz, so gut es ging.“ Und nicht nur diese rezente Geschichte verdrängt Ariane, auch eine andere, ältere.

Sie kann nicht vergessen, wie sie sich zu Katjas römischer Schulzeit mit ihrem ersten Mann Stefan gestritten hat. Der viele Streit, so denkt sie, habe ihre Tochter introvertiert und selbstkritisch gegenüber ihren eigenen Zeichnungen und Malereien gemacht: „Sie führte Selbstgespräche, sprach wie eine böse Lehrerin zu sich, korrigierte in strengem Ton das eigene Tun, kritisierte etwa die Wahl der Farben oder die vielen runden Formen.“

Doch auch einen anderen möglichen und gewichtigeren Grund für das Ungleichgewicht ihrer Tochter kann sie weder vergessen noch verdrängen. Als Katjas Lehrern ihr Verhalten auffällt, wird sie zur Schultherapeutin geschickt. Auf deren forsche Fragen antwortete Ariane, dass Katjas Vater unlängst gestorben sei, und sie „spürte sofort, dass sie nicht bereit war, bei diesem Thema mehr in die Tiefe zu gehen.“ Katjas Vater hat im Ausland gelebt und sie hat ihn nie kennengelernt. Mehr will Ariane aber nicht verraten.

Dieses Verschweigen und Ignorieren von Altem und der Einfluss, den das auf die neue Geschichte hat, treibt in Folge die spannende Handlung von Wimmer Mazohls Romans an und führt zu zwei dramatischen Ortswechseln und zu direkten Begegnungen mit der eigenen Geschichte. Ein wiederkehrendes Motiv in diesem Text sind Mythen, jene andere Wahrheit also, die vor der Geschichte steht. So überformt Ariane das unerwartete Ende mit einem griechischen Mythos, und das erste Kapitel wird von Zitaten aus dem ägyptischen Totenbuch gegliedert.

Dazu soll hier aber nichts verraten, sondern nur die Empfehlung ausgesprochen werden, sich Erika Wimmer Mazohls sicherer Führung durch ihre spannende Geschichte anzuvertrauen.

Löwin auf einem Bein.
Roman.
Innsbruck: Limbus Verlag, 2020.
360 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-99039-166-2.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 29.03.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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