#Sachbuch

Literaturwissenschaftliches Lexikon

Horst Brunner, Rainer Moritz (Hg.)

// Rezension von Ulrike Diethardt; Evelyne Polt-Heinzl

Es ist erstaunlich, was alles die Herausgeber auf den 372 – wenn auch in guter alter Lexikonmanier zweispaltig und nicht sehr augenfreundlich bedruckten – Seiten an Information zu Epochen-, Gattungs- und Theoriebegriffen, zu Poetik, literarischen Institutionen, Geschichte und Selbstverständnis der Germanistik untergebracht haben. 150 Stichwörter sind es und damit genau die Hälfte, die etwa in den 1992/93 erschienenen Bänden 13 und 14 (betreut von Volker Meid) des Bertelsmann Literaturlexikons, herausgegeben von Walther Killy, zu Begriffen, Realien und Methoden der Literaturwissenschaft versammelt sind.

Fünf Jahre liegen zwischen den beiden Publikationen und der Gedanke ist verführerisch, Nachschau zu halten, wie bzw. ob sich Methodendiskussionen und Wertewandel abzeichnen. Auch wenn unterschiedliche Begriffsfassungen hier einige Schwierigkeiten in den Weg stellen und die Halbierung der Begriffe natürlich enorme Selbstbeschränkungen erfordert, scheint im großen und ganzen ein beruhigender Gleichklang zu überwiegen. Als thematisch neue Begriffe finden sich bei Brunner / Moritz zum Beispiel „Dekonstruktion“, „Intertextualität“, „Semiotik“, „Neue Subjektivität“ oder „Komparatistik“, deren Bedeutungsfelder fünf Jahre zuvor noch kein eigenständiger Eintrag abdeckte. Andere sind dafür verschwunden, wie „Collage / Montage“ (das Register verweist auf „Avantgarde“, „Dadaismus“ und „Konkrete Poesie“) oder „Surrealismus“ (siehe ebenfalls „Avantgarde“). Auch Begriffe, die unter einem mittlerweile eigentlich gängigen erweiterten Literaturbegriff zur Selbstverständlichkeit geworden sind, wie „Drehbuch“, „Literatur und Film“ oder „Fernsehspiel“ – fehlen bzw. verstecken sich im Stichwort „Medien“. Das gute alte Hörspiel hat hingegen seine Eigenständigkeit nicht eingebüßt. Das Libretto fehlt selbst im Stichwortregister, wodurch der (einzige) unernste Beitrag von Eckhard Henscheid zur „Oper“ (Tenor: „In der Oper ist meist was los.“ S. 255) nicht nur von seiner Launigkeit her etwas in der Luft hängt. Bedauerlich ist auch der Verlust von „Arbeiterliteratur“ und „Ausländerliteratur“ (auch wenn dieser bei Killy gewählte Begriff nicht sehr differenziert ist), wohingegen die Frauen nunmehr nicht nur im Kapitel „Feministische Literaturwissenschaft“ (bei Killy noch etwas reduzierter „Feministische Literaturkritik“ benannt), sondern auch mit einem eigenen Eintrag zu „Frauenliteratur“ vorkommen.

Vergeblich suchen wird man im Beitragsteil die Stichworte „Stoff und Motiv(geschichte)“, die sind nämlich unter dem Titel „Thematologie“ zusammengefaßt, wenngleich Paragraph 1 dieses Beitrags erläutert, daß sich dieser Begriff nicht wirklich durchgesetzt hat. Und da wird das Fehlen von querverweisenden Einträgen schmerzlich bewußt. Zwar ist dem Band ein (auch ergänzendes) Begriffsregister beigegeben, aber das vermag diese Lücke nicht immer zu füllen. Wer Informationen über die Literatur der Weimarer Republik sucht, wird nicht fündig werden, es sei denn, er verfügt über ein gewisses Reservoir an Parallelbegriffen, das neben dem (nicht aufscheinenden) Wort „Zwischenkriegszeit“ auch die Bezeichnung „Neue Sachlichkeit“ enthält. Das ist in keiner Weise ein Plädoyer für die noch bei Killy verwendete Epochenbezeichnung „Weimarer Republik“, wo unter dem Titel einer rein deutschen Periodisierung auch Autoren wie Franz Werfel subsumiert werden. Der Begriff der „Neuen Sachlichkeit“ ist aufgrund seiner größeren Neutralität sicherlich adäquater, ein Querverweis oder auch eine Registernennung wären zur Orientierung aber doch sehr hilfreich.

Unabhängig von diesen Überlegungen, die bei Publikationen dieser Größe immer auch praktische / technische Ursachen haben mögen, ist der Band zweifellos gelungen. Die einzelnen Darstellungen stammen von anerkannten Fachleuten für die jeweiligen Spezialgebiete. Die Mischung aus langjährig bekannten Kapazitäten und jungen, durch einschlägige Publikationen ausgewiesenen Fachkräften, garantiert den Einbezug der allerneuesten Forschungstendenzen. Ohne Anspruch auf Reihung oder gar Wertung seien einige Namen genannt: Erhard Schütz (Neue Sachlichkeit, Reportage), Hartmut Steinecke (Roman, Romantheorie), Franz Loquai (Romantik), Erika Fischer-Lichte (Theater), Frithjoff Trapp (Exilliteratur), Dieter Kafitz (Jahrhundertwende, Naturalismus), Rainer Moritz (Innere Emigration, Literaturkritik), Walter Hettche (Realismus), Kurt Bartsch (Dadaismus, Hörspiel), Marianne Wünsch (Phantastik, Rezeption), Dietmar Goltschnigg (Essay), Klaus Zeyringer (Literaturgeschichte, Dialektdichtung, Volksstück), Jutta Osinski (Feministische Literaturwissenschaft, Frauenliteratur), Beatrix Müller-Kampel (Thematologie, Topos). Und wenn eine feministisch orientierte Germanistin wie Michaela Holdenried die Beiträge Autobiographie, Neue Subjektivität und Reiseliteratur übernimmt, dann bleibt Literatur von Frauen auch (erstmals?) nicht beschränkt auf die entsprechenden Einträge, sondern wird auch auf der Ebene von Lexikonbeiträgen zu allgemeinen Begriffen selbstverständlicher Bestandteil der Literatur.

Horst Brunner, Rainer Moritz (Hg.) Literaturwissenschaftliches Lexikon
Grundbegriffe der Germanistik.
Berlin: Erich Schmidt, 1997.
372 S.; brosch.
ISBN 3-503-03745-4.

Rezension vom 12.05.1998

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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