#Sachbuch

Literaturvermittlung und Kulturtransfer nach 1945

Markus Ender, Ingrid Führhapter, Ulrike Tanzer, Anton Unterkircher (Hg.)

// Rezension von Aleš Urválek

Erforschung der mannigfaltigen Kontexte der literarischen Texte scheint ein Hit der letzten Jahre; Fragen der Produktion, Vermittlung, Distribution sowie diverse Kanonisierungsprozesse rücken allmählich in den Mittelpunkt der kulturwissenschaftlich und literatursoziologisch orientierten Germanistik.

Im produktiven Anschluß an die feldtheoretischen Ansätze gewinnen somit auch Persönlichkeiten an Bedeutung, die sich nicht unbedingt (oder nur) als Autoren profilieren, vielmehr in diversen Prozessen des literarischen Betriebs im oben genannten Sinne agieren. Als Kulturvermittler befinden sie sich am Schaltpult, von dem aus sie etwa als Herausgeber oder Juroren der literarischen Preise mitbeeinflussen, wie Literatur produziert, selektiert und rezipiert wird. Zugleich sind sie in ihrer Wirkung beschränkt, sei es durch diskursive Regeln oder durch übergeordnete und in ihrer Verflechtung nur schwer überschaubare Zusammenhänge, üblicherweise als Netzwerke bezeichnet, durch die ihre jeweilige Position eben erst mitkonstituiert wird. Die literaturwissenschaftliche Relevanz solcher netzwerkartigen Ansätze gilt mittlerweile als methodisch ausdiskutiert und überprüft (vor allem dank der Zeitschrift für Germanistik, 2016 und 2019), es lassen sich bereits die ersten Stichproben verbuchen, die den Netzwerken und Freundschaftssemantiken in der Aufklärung (Göttinger Hain, untersucht von E. Thomalla) oder auch schon in der Literatur des 20. Jahrhunderts nachspüren (G. Stanitzek, N. Binczek). In Österreich, soweit ich es aus der Distanz beurteilen kann, liegen mit den Monographien über Die Netzwerke des Hans Weigel (W. Straub) und die Rollenvielfalt von Wolfgang Kraus im österreichischen Literaturbetrieb (S. Maurer) nun auch die ersten Schwalben vor. Institutionell profiliert sich derart zum Teil das Innsbrucker Forschungszentrum Dimensionen des Literaturtransfers profilieren, sowie das dortige Brenner Archiv.

In dessen Räumlichkeiten fand im März 2017 eine wissenschaftliche Tagung zum 50jährigen Todesjubiläum Ludwig von Fickers statt, deren Resultate im hier zu besprechenden Sammelband vorliegen und einen ersten und über weite Strecken inspirativen und aufschlussreichen Einblick nicht nur in die breitgefächerten Aktivitäten Fickers geben, die ja mit dem Herausgeben der Innsbrucker Kunst- und Kulturzeitschrift Der Brenner (1910-1954) keineswegs erschöpfend beschrieben sind, sondern auch in das Geflecht der kulturellen Vermittlungsprozesse, in die Ficker mit vielen anderen Akteuren eingebunden war. Diesem netzwerkartigen Zugang wird der Sammelband insofern gerecht, als er mit einem polyphonem Anspruch die vielfältigen Bestrebungen etlicher Zeitgenossen Fickers um transkulturelle Verbindungen in den Blick nimmt, um Netzwerke insbesondere der Nachkriegszeit zu erschließen, „die erst in einer verdichteten Synopse sichtbar waren“ (10). Dieses ambitionierte Unternehmen, bei dem Ficker, so die grundlegende These der Netzwerktheorie, keineswegs als eine autonome „Spinne im Netz“ sondern vielmehr aus der Spannung zwischen Aktivitäten und Reaktivitäten, Intentionen und Effekten, Fremd- und Eigenwahrnehmung, Hagiographie und Marginalisierung heraus zu betrachten ist, baut auf der Überzeugung, eben so ließe sich „die Bandbreite verschiedener durch Vermittlerpersönlichkeiten angestoßener Transferprozesse […], die Komplexität ihrer kommunikativen Netzwerke“ abbilden (10).

Wie wird dieses Vorhaben in den einzelnen Studien eingelöst? In den jeweiligen Porträts – mit Ausnahme des eher feierlich konzipierten Beitrags von G. Stieg zu „Gabriel Marcel als Leser Rilkes“ und zum Teil auch des Porträts von Walther Rehm (D. Kemper), in denen die Kontexte um Ficker nur am Rande vorkommen – tritt das Geflecht der Kulturvermittler recht anschaulich ans Licht, wird doch Ficker anderen zentralen und überaus exponierten (H. Weigel, O. Basil, H. Spiel, F. Heer, W. Kraus) aber auch weniger bekannten (O. Mauer, O. M. Fontana, H. Hakel, R. Kalmar, H. Polsterer, W. Kraft) Akteuren der österreichischen Kulturbetriebs gegenübergestellt sowie in gegenseitiger Wirkung zu Zeitschriften (Hochland, Wort und Wahrheit, Plan, Seefelder Zeitung) oder Rundfunkmedien (Rot-Weiß-Rot) erfasst.

Einen informativen Auftakt zum Band bildet die Studie I. Fürhapters, in der zunächst das Bild des als Vermittler im Mittelpunt stehenden Ficker aus der Rezeption rekonstruiert wird, wobei die idealisierenden Züge (sittliches Vorbild) zum einen durch Fickers selbstironische Eigenwahrnehmung konterkariert, und zum anderen auf etliche Projektionszwecke hin untersucht wird; Ficker erscheint hier als ein in hohem Maße vom intellektuellen Nachkriegsösterreich vereinnahmter Akteur, der als „innerer Emigrant“ von einer zunehmend christlich humanistischer Prägung nach 1945 insofern zur Projektionsfläche werden konnte, als man die österreichische Nachkriegsidentität eben auf solchen traditionalistischen Werten aufzubauen suchte.

Wie spannungsbeladen und in der Tat ambivalent solche Position an der Schwelle zwischen der Kriegs- und Nachkriegszeit gewesen sein dürfte, zeigt in exemplarischer Klarheit P.H. Kucher am schiffbrüchigen Netzwerkeln von Oskar Maurus Fontana, einem Zeitgenossen Fickers. Statt bruchlosen Identitäten, die über historische Zäsurjahre hinübergerettet werden, um zum kaum hinterfragbaren Fundament für den Neuanfang nach 1945 zu werden, blickt Kucher vielmehr auf die Diskrepanzen zwischen dem keineswegs unbefleckten Profil eines inneren Emigranten und dessen Engagement am kulturellen Wiederaufbau nach 1945. Dabei verweigert sich Kucher die naheliegende moralisierende Entrüstung, lotet stattdessen die Anstrengungen Fontanas aus, in der NS-Zeit sichtbar zu bleiben, ohne sich allzu tief zu verstricken. Er verschränkt sie nicht nur mit ähnlich lavierenden Strategien einiger Zeitschriften der Diktaturzeit („zwiespältige Imagepolitur“ etwa in Das Reich, 70), sondern auch mit Fontanas unbescheiden Netzwerkaktivitäten nach 1945. Eine maßgebliche Instanz ist Fontana nach 1945 trotzdem nicht geworden, und dies, wie Kucher überzeugend darstellt, weil er nicht imstande war, das kulturell-intellektuelle Kapital, das ihm, auf welch fragwürdigen Wegen auch immer zuerkannt wurde, in eine stabile symbolische Währung umzumünzen. Eine paternalistische „Selbst-Stilisierung mit zunehmend hartnäckiger Ausblendung der eigenen Fehlleistungen“ (70) erwies sich trotz reger Aktivität als keine gute Option.

In einigen anderen Beiträgen stehen die Zeitschriftenprojekte im Mittelpunkt, die – meist eher leicht – die Kontexte um Ficker tangieren. Im gewissen Sinne geht man hier den „weak ties“ nach, deren Erforschung sich laut der Netzwerktheorie nicht minder produktiv erweisen mag als diejenige der „strong ties“. Diese Umwandlung des Schwachen in Produktives geschieht hier in unterschiedlicher Intensität. Der informativ gesättigte Beitrag von T. Pittrof über die Kulturvermittlung in der Zeitschrift Hochland in der frühen Nachkriegszeit nähert sich Fickers Brenner via konzeptionelle Ähnlichkeiten („ungebrochene Überlieferung“, 37), wartet zwar mit einer langen Liste der überaus interessanten Namen auf, die kontinuierlich über 1945 hinweg publiziert und innerhalb der Netzwerke agiert haben, doch inwiefern diese freilich in mancher Hinsicht inspirativen, allerdings vielmehr in den Fußnotentext platzierten Betrachtungen (etwa zu T. W. Adorno oder H. Blumenberg), für die Kontexte um Ficker fruchtbar zu machen wären, bleibt offen. Stärkere Korrespondenzen sind im Beitrag von N. Bakshi auszumachen, die Otto Mauer, den Mitbegründer und -herausgeber der kultur- und theologisch orientierten Zeitschrift Wort und Wahrheit (1946-1971), kontextualisiert. Über einige Brücken, sowohl thematischer als auch literaturhistorischer Natur gelangt man hier zu umsichtigen Ausführungen über die nicht immer geglückten Versuche, zwischen Literatur und Theologie zu vermitteln. So überzeugend die Balanceanstrengungen in Wort und Wahrheit der frühen Nachkriegsjahre dargestellt werden, so gerne würde man genaueres über die Rolle von Mauer in den darauffolgenden Jahren erfahren, gäbe doch gerade die kollaborative Herausgeberschaft dieser Zeitschrift eine optimale Gelegenheit, die Spannungen innerhalb der kulturvermittelnden Netzwerke zu erfassen.

Otto Basil wird von D. Hebenstreit insbesondere als Herausgeber der Zeitschrift Plan (1945-1948) präsentiert, einer zwar kurzlebigen doch gerade für die Erforschung der persönlichen und institutionellen Netzwerke in der Spannung zwischen Kontinuität und Neubeginn aufschlussreichen Zeitschrift. Man bekommt hierin einen instruktiven Einblick in die internationale Profilierung dieser Zeitschrift, die je kompromissloser mit den NS-belasteten Autoren umging, desto stärker sie sich um vermittelnde Kontakte zum Exil und zu anderen europäischen Literaturen bemühte. Mit unumstrittenem Gewinn lesen sich auch die Studien zu Justus Kieners kulturvermittelnden Aktivitäten in Seefelder Zeitung (Ch. Riccabona) sowie zur Sendung Du holde Kunst, die in den ersten 7 Nachkriegsjahren im Sender Rot-Weiß-Rot ausgestrahlt wurde, und eine Mischung aus Erhebung und Trost bot, eine freilich nicht unumstrittene doch als nötig empfundene und für die schweren Jahre sicher nicht seltene Strategie, an der das Prekäre jeder unpolitisch konservativen Programmatik studiert werden kann.

Wie mühsam es ist, ein Networking im Verborgenen ans Licht zu bringen, sieht man an der Studie zu Felix Braun (A. Unterkircher). Eine Unmenge an Briefen muss herangezogen werden, ohne dass man zu endgültigen Antworten kommt; vielmehr werden, wie bei einem Geologen, stets neue Schichten freigelegt, neue Kontexte erschlossen, neue Kandidaten ins Spiel gebracht, bei denen sich erst wird zeigen müssen, inwiefern sie relevant sind. Freilich kann man in den Fußstapfen des Verfassers den Kreis der Akteure schier uns Unendliche erweitern, die ja eine ausführlichere Studie verdienen würden, man sollte dabei allerdings den funktionalen Aspekt nicht aus den Augen verlieren. Dieser der Netzwerkforschung immanenten zentrifugalen Versuchung scheint in ihrem Beitrag E. Polt-Heinzl eher zu widerstehen, sofern sie mit Hilde Polsterer das Porträt einer in der Tat vergessenen und ins diskursive Abseits geratenen „Saloniére der Nachkriegszeit“ (219) aus einigen wenigen Scherben zusammenstellt, um Polsterer nicht nur in Felder hinaus-, sondern sie immer wieder auf die zentralen Namen (Weigel, Mauer) des im Sammelband fokussierten Netzwerks zurückzuführen.

Der vermittelnde Aspekt kommt dann stark in den Beiträgen zu Friedrich Heer, Rudolf Kalmar und Werner Kraft zum Tragen. F. Heer wird von S. P. Scheichl als ein Vermittler in der Not (am Manne) vorgestellt, dem in W. Kaysers in der Bundesrepublik recht kanonischem Band Deutsche Literatur in unserer Zeit die Aufgabe zugefallen ist, über die Perspektiven österreichischer Gegenwartsdichtung zu referieren, keine einfache Aufgabe, zumal Heer sie alsAleš Literaturkritiker in Angriff nehmen musste. Daher die von Scheichl registrierten methodologischen Defizite und ein eher frei assoziatives Vorgehen, das manches ausklammert, in vielen Punkten aber überraschend inspirativ gewesen sein dürfte. Dass die Tür zum Exil in der frühen Nachkriegszeit offenblieb und man zumindest für kurze Zeit bereit war, die Alliierten in ihrem aufklärerischen Bestreben zu unterstützen, war, wie E. Polt-Heinzl schildert, mitunter auf das Netzwerkeln von R. Kalmar zurückzuführen. Im polarisierten Nachkriegsösterreich sorgte er dafür, dass neben den nicht raren NS-Belasteten (namentlich wird hier H. Sedlmayr genannt) auch die Exilierten nach und nach ihre Publikationsmöglichkeiten wahrnehmen konnten. Mit Werner Kraft tritt im Beitrag von M. Ender gerade ein Exulant zum Vorschein, der die Netzwerke um Ficker dazu nutzte, um aus der Ferne die österreichische Nachkriegskultur zu beeinflussen, ja sie um eben die Töne zu bereichern, vor denen sie sich abgekapselt hatte.

Last but not least bekommt man in diesem lesenswerten und aufschlussreichen Sammelband kontextualisierend angelegte Studien zu den großen Namen des österreichischen Literaturbetriebs zu lesen. Hermann Hakel, der 1947 nach Wien aus Palästina zurückgekehrt ist, wird von G. Stocker als die für einige Jahre neben H. Weigel zentrale Figur im Literaturbetrieb porträtiert, deren Bedeutung allerdings aufgrund etlicher Gründe persönlicher sowie institutioneller Art zerbröckelte. Geschildert wird Hakels nicht immer korrektes Agieren im literarischen Hintergrund, was einen guten Einblick in den Aktionsradius der jeweiligen Rollen im Betrieb und etwa die Position einer Anlaufstelle für junge Autoren (noch besser Autorinnen) in ein scharfes Licht stellt. Darüber hinaus wirft dieser Beitrag die spannende Frage auf, inwiefern es sich ein erfolgreicher Netzwerker erlauben darf, ideologisch inkonsequent zu agieren.

Die „grande Dame der literarischen Szene“ (81) Hilde Spiel wird von D. Strigl zwischen ihrem Londoner Exil und Wien erfasst, wohin sie als Korrespondentin geschickt wurde, ohne dort je richtig angekommen zu sein. Ihre Rückkehr nach Wien (deutsch erst viel später, im Jahre 1968, erschienen) zeichne sich durch unaufhebbare Spannung zwischen „Abscheu und Heimweh, Nähe und Distanz, Vorwurf und Mitleid“ (84) aus, was ihre spezifische Position eines interessierten Zaungasts bezüglich der Einstellung zur Entwicklung der österreichischen Nachkriegsliteratur imprägniert: Spiel unterstützte zum einen den Neuanfang, blickte aber skeptisch auf manche seiner Effekte. Sie distanzierte sich von den NS-Belasteten, ohne sie allerdings pauschal zu moralisieren, wie etwa ihre Vorliebe für H. v. Doderer zeigt. Eine spannende Lektüre, man würde am liebsten gleich zur Rückkehr nach Wien greifen. Denselben Effekt hat die Lektüre der Beiträge von W. Straub und S. Maurer, insofern beide in komprimierter und vertiefter Form ausgewählte Themenkomplexe aus ihren Monographien präsentieren, die Hans Weigel und Wolfgang Kraus gewidmet waren. In der Eigenwahrnehmung als Befürworter der Emigranten, denen er aber zugleich vorschrieb, wie sie sich zu benehmen hätten, stellt Weigel eine überaus ambivalente und zur gründlichen Erforschung motivierende Persönlichkeit dar, deren Komplexität vielmehr eben unter Bezugnahme auf Netzwerkanalyse am ehesten beizukommen ist. Dass solche Herangehensweise allgemeinere Aufschlüsse über das österreichische literarische Feld geben könnte, zeigt S. Mauers Studie zu W. Kraus. Bleibt Straub in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit Ausblicken in den einsetzenden Kalten Krieg, so geht man mit Maurer, der Kraus zunächst als den österreichischen Kulturmanager der 1960er und 1970er schlechthin in seinen vielen Rollen, von denen die des Gründers der „Österreichischen Gesellschaft für Literatur“ wohl nur die sichtbarste war, bis in die 1980er Jahre. Sehr spannend zu lesen, wenn man nur einen Aspekt herausgreift, der aber auch für andere Beiträge des Sammelbands gelten dürfte, wie eine kulturpolitisch mächtige Instanz wie Kraus auf verwandelte Konstellationen reagiert, und trotz Netzwerkanstrengungen, an seine eigenen Grenzen kommt. Insofern bestätigt dieser lesenswerte Band insgesamt, dass die Akteure sehr wohl schwinden, Netzwerke aber bleiben, freilich dem steten Wandel ausgesetzt.

Markus Ender, Ingrid Führhapter, Ulrike Tanzer, Anton Unterkircher (Hg.) Literaturvermittlung und Kulturtransfer nach 1945
Ludwig von Ficker im Kontext.
Innsbruck: Studien-Verlag, 2020 (= Edition Brenner-Forum, Band 16).
268 S.; geb.
ISBN 978-3-7065-6056-6.

Rezension vom 10.12.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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