#Sachbuch

Literaturnobelpreis - Pressekritik - Kanonbildung

Isaac Bazié

// Rezension von Ulrike Diethardt; Evelyne Polt-Heinzl

Als die Schwedische Akademie der Schönen Künste 1786 gegründet wurde, hatte sie jährlich „6000 Kronen unter die schwedischen Belletristen“ zu verteilen (S. 211) – eine überschaubare Aufgabe von nationaler Gewichtigkeit. Eineinviertel Jahrhunderte später fiel den achtzehn auf Lebenszeit gewählten Mitgliedern der Akademie die Aufgabe zu, drei der fünf von Alfred Nobel gestifteten Preise zu vergeben, darunter den für Literatur. Verbunden mit der beachtlichen Dotation ist eine enorme Öffentlichkeitswirksamkeit. „Die Medien sind es, die aus dem Nobelpreis ein ‚événement‘ machen“ (S. 253).

Isaac Bazié untersucht in seiner umfangreichen und sorgfältigen Studie dieses symbiotische Verhältnis von Literaturnobelpreis und Pressekritik unter dem übergreifenden Aspekt der weltliterarischen Kanonbildung. Er wählt für seine Untersuchung die Dekade 1984 bis 1994, in der einige Signale in Richtung Öffnung und Neuorientierung der Preispolitik feststellbar sind. 1984 erhielt mit Jaroslav Seifert ein Nationaldichter einer „kleinen Sprache“ den Preis, 1986 mit Wole Soyinka der erste afrikanische Autor, 1991 bzw. 1993 wurden Nadine Gordimer und Toni Morrison ausgezeichnet (1996 folgte die polnische Lyrikerin Wislawa Szymborska), was, verglichen mit den insgesamt sechs prämierten Frauen der vorangegangenen 83 Jahre ein bewußtes Abrücken von geschlechtspezifischer Ausgrenzung zu indizieren scheint.

Die Preispolitik der Akademie stieß von den zaghaften und oft unglücklichen Entscheidungen der Anfangsjahre an immer wieder auf heftige und häufig berechtigte Kritik. Es ist nicht schwer, eine Liste mit „übergangenen“ AutorInnen zu erstellen, die an Gewicht und Bedeutung das Nobel-Register deutlich und aus heutiger Sicht unstrittig überragen. Bazié versucht in seiner Untersuchung nicht, das Sündenregister der Akademie zu kaschieren, will aber zugleich auch den Schwierigkeiten der Jury-Arbeit gerecht werden. Das beginnt bei den sehr vagen Vorgaben für die Preiszuteilung in Alfred Nobels Testament. Die Preise sollen alljährlich „denen zugeteilt werden“, heißt es da, „die im verflossenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen gebracht haben“; der Preis für Literatur gebührt dem, der „das Beste in idealistischer Richtung geschaffen hat“ (S. 5). Das ist nicht nur eine sehr unbestimmte, sondern auch eine problematische Formulierung. Wäre man im strengen testamentarischen Wortsinn verfahren, hätte das in einer alljährlichen Weltbestseller-Ermittlung münden können. Dennoch, deutlich ausgesprochen ist hier, daß der Literaturnobelpreis nicht ein Lebenswerk auszeichnet, wie es sich wohl aufgrund des hohen Durchschnittsalters der Ausgezeichneten (1994 betrug es 62 Jahre) im Allgemeinbewußtsein festgesetzt hat.

Kommentierung und Bewertung der schwedischen Preispolitik in der Pressekritik sind auch in der von Bazié untersuchten Dekade widerrsprüchlich und vielstimmig, wobei über die Jahre bestimmte, auch nationale Spezifika und Prävalenzen sichtbar werden. Das Untersuchungsmaterial bilden sieben bundesdeutsche, ein Schweizer (kein österreichisches), zwei französische und zwei englische Presseorgane. Die in ihnen nachlesbaren Reaktionen auf die Preisverleihungen werden skizziert und im Detail ausgewertet entlang den Fragestellungen: ästhetische versus politische Entscheidung, Bekanntheit / Unbekanntheit des Preisträgers, Förderung „unvollendeter“ Dichter versus Krönung von Altmeistern und einbezogene Sprach- und Kulturräume.

In den Fällen, wo Juryentscheidungen weitgehend einhelllig positiv rezipiert wurden – etwa bei Joseph Brodsky 1987, Octavio Paz 1990, Kenzaburo Oe 1994 und mit Einschränkungen auch Camilo José Cela (1989) – gründete das positive Urteil vor allem darauf, daß die genannten Autoren als ausreichend bekannt und weltliterarisch bedeutsam galten. Das traf auf andere Preisträger dieses Jahrzehnts nicht zu, beginnend bei Jaroslav Seifert 1984, dessen Würdigung vor allem im deutschen Sprachraum primär als politische Entscheidung interpretiert wurde, wohingegen etwa in Frankreich die kulturelle Relevanz des tschechischen Sprachraums für die europäische Literatur des 20. Jahrhunderts stärker betont wurde. Auch bei der Entscheidung für Nadine Gordimer dominierte in den deuschen Medien die politische Interpretation. Kritisiert wurdei hier auch der verspätete Zeitpunkt der Zuerkennung – verspätet im politischen Sinn und weniger im Bezug auf das Lebensalter der Autorin (sie war 1991 68 Jahre), eine Aspekt der bei Seifert – er war im Jahr der Preisverleihung 83 Jahre – kaum in den Blick kam.

Seifert ist im übrigen auch ein gutes Beispiel für die Relativität des PR-Effekts des Nobelpreises sowohl wie der Literaturkritik. Vor seiner Nominierung war in deutscher Sprache ein Lyrikband im Waldbrunner Heiderhoff Verlag erhältlich. Laut Aussage des Verlagsleiters folgte der Bekanntgabe des Preisträgers ein knapp viermonatiger Boom, der sich Ende Jänner wieder auf den alten Stand einpendelte. Was die Verkaufszahlen im deutschen Raum betrifft, blieben auch im Fall des 1992 ausgezeichneten karibischen Autors Derek Walcott positive Langzeiteffekte aus. In der literaturkritischen Beurteilung kam jedoch bei Walcott, der im deutschen Sprachraum genauso unbekannt war wie Seifert, der Exotismus-Bonus zum Tragen. Untermauert wurden die positiven Reaktionen durch die Berufung auf die Bekanntheit Walcotts (er schreibt zum Teil auf englisch) im englischen Sprachraum. Anders in Frankreich. Auch hier war Walcott kaum übersetzt, aber die postive Rezeption im Umfeld der in Frankreich vertrauten karibischen Literatur bereitete keine Schwierigkeiten und bedurfte keines rechtfertigenden Rückgriffs auf die bereits erreichte Kanonisierung im angloamerikanischen Raum.

Daraus ergibt sich eines der markantesten nationalen Spezifika, die Bazié herausarbeitet. „In der Dreierkonstellation Deutschland – Frankreich – England hinkt die deutschsprachige Pressekritik oft hinterher, wenn es darum geht, außereuropäische Literaturen wahrzunehmen und einzuordnen.“ (S. 97) Gilt für den Literaturnobelpreis insgesamt eine stark eurozentristische Sichtweise auf die „Weltliteratur“, trifft für die deutsche Kritik noch viel stärker die Gleichsetzung: weltbekannt ist gleich westbekannt zu.

Besonders deutlich wurde das bei den beiden afrikanischen Preisträgern dieser Dekade. Die Wahl Wole Soyinkas 1986 wurde als verspätete Öffnung in Richtung des afrikanischen Kontinents auch in den deutschen Medien begrüßt – ebenso wie in England und Frankreich, wo allerdings in der Würdigung im französischen „Figaro“ hartnäckig von einem „nigerischen“ Autor die Rede war. Diese „Weltoffenheit“ hatte sich zwei Jahre später bei der Vergabe an Nagib Mahfus hierzulande bereits erschöpft. Nahezu die Hälfte der untersuchten deutschsprachigen Organe (Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung) reagierte ablehnend auf die Entscheideung. Zwar wird Mahfus‘ Status als Klassiker des arabischen Raums nicht bestritten, aber seine nahezu gänzliche Unbekanntheit und Unübersetztheit im europäischen Raum reicht aus, die Wahl Mahfuz‘ – für dessen Namen nicht einmal eine einheitliche deutsche Schreibweise existiert, wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ monierte – als bizarr und unangemessen zu qualifizieren.

Baziés Buch versucht keine Rechtfertigung oder Beschönigung der Fehlentscheidungen der Schwedischen Akademie, aber sein genauer Blick auf die vom Feuilleton verfolgten Strategien der Kritik rückt einiges am Verhältnis die Guten / die Bösen zurecht. Was man sich als Abschluß gewünscht hätte, wäre ein etwas ausführlicherer Apparat gewesen, der auch über die Untersuchungsdekade hinaus einen kleinen Überblick über die Geschichte des Literaturnobelpreises erlaubt hätte. Wer sich dafür interessiert, kann sich diese Informationen aber auch im Internet verschaffen.

Isaac Bazié Literaturnobelpreis – Pressekritik – Kanonbildung
Die kritischen Reaktionen der deutschsprachigen, französischen und englischen Presse auf den Literaturnobelpreis von 1984 bis 1994.
Würzburg: Königshausen & Neumann, 1999.
(Saarbrücker Beiträge zur vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft. 10).
273 S.; brosch.
ISBN 3-8260-1734-X.

Rezension vom 17.01.2000

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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