#Sachbuch

Literaturkritik

Brigitte Schwens-Harrant

// Rezension von Kurt Bartsch

Krise ist immer: Nicht soll hier die Rede sein von politischen und ökonomischen Krisensituationen, wiewohl diese – kaum erwähnenswert, weil selbstverständlich – im literarischen Feld ihre Wirkung tun, vielmehr von Krisen in der Literatur. Irgendeine wirkliche oder vermeintliche Krise sorgt immer für aufgeregte Diskurse. Gewöhnt hat man sich daher an die Rede von der Krise des Erzählers, des Romans oder auch des Dramas. Neuerdings scheint aber auch die Literaturkritik, die diese Krisen in den Feuilletons der großen meinungsbildenden Magazine aus Vermarktungsgründen mit schöner Regelmäßigkeit zu verkünden pflegt, in die Krise geraten zu sein – explizit wird eine solche 2005 zur Debatte gestellt im Untertitel eines Sammelbandes von Gunther Nickel, hier aber immerhin versehen mit einem Fragezeichen.

Indiz dafür mag die erstaunlich hohe Zahl der allein seit Beginn dieses Jahrtausends erschienenen Bücher und Aufsätze zur Literaturkritik sein. Neben Veröffentlichungen mit unprätentiösen Titeln wie (Positionen der) Literaturkritik finden sich hochtrabende: Ästhetik der Kritik oder Verdeckte Ermittlung, Das Verschwinden der Kritik, Fünfeinhalb Gemeinplätze die Literaturkritik betreffend, und natürlich auch Reflexionen über das Verhältnis von Literaturwissenschaft zur Literaturkritik, zwischen denen – wie wunderbarerweise bei der Tagung der Österreichischen Gesellschaft für Germanistik 2006 verkündet wurde – eine wunderbare Freundschaft bestehen soll. Und man findet klingende Namen unter denen, die sich Sorgen machen um die Literaturkritik von Thomas Anz über Ulrich Greiner, Alexander Kluge, Sigrid Löffler, Raoul Schrott bis Wendelin Schmidt-Dengler (die Liste ist alles andere als vollständig).

Die Literaturkritik scheint also in einer Krise zu stecken. Abgesehen davon, dass die Begriffe „Kritik“ und „Krise“ sich, wie Schwens-Harrant zurecht bemerkt, von einer gemeinsamen etymologischen Wurzel herleiten, also gewissermaßen zusammengehören, kann – positiv gesehen – die angesprochene Vielzahl an Reflexionen über Literaturkritik von einem geschärften Bewusstsein für die Notwendigkeit zeugen, das Geschäft des Kritisierens selbst der Kritik zu unterwerfen. So begibt sich denn Schwens-Harrant, wie sie mit einem leicht bernhardisch klingenden Untertitel ankündigt, auf „Suche“, stilistisch erkennbar an zahllosen Fragesätzen, auf die die Verfasserin keine vorschnellen Antworten gibt, ein Indiz wiederum für ihren undogmatischen, eben suchenden Zugang zum Thema.

Als Literaturkritikerin und -redakteurin weiß Schwens-Harrant, wovon sie spricht, wenn sie das gesamte Umfeld, in dem Literaturkritik agiert, auszuloten „sucht“ und deren unterschiedlichste Ausrichtungen und Möglichkeiten unter Beachtung auch der verschiedenen medialen Bedingungen (Printmedien, Hörfunk, Fernsehen, Internet) beziehungsweise unterschiedlichen Textsorten (wie Rezension, Essay, Glosse, Interview etc.) ins Auge fasst. Dass Kritik im Literaturbetrieb eine wichtige Rolle spielt, wird kaum jemand bezweifeln. Welche Rolle sie allerdings in diesem recht fragwürdig gewordenen Feld spielt beziehungsweise spielen kann, lässt sich nicht so einfach beantworten. Die überzogenen Vorstellungen der Romantiker, denen zufolge sie als „Experiment am Kunstwerk“ (Friedrich Schlegel) gilt und als solches im Idealfall diesem gleichkäme, hat die heutige Literaturkritik weiter hinter sich gelassen, wenngleich man einen schwachen Nachhall davon spüren mag, wenn Schwens-Harrant in der Literaturkritik ein Konstrukt sieht, das am Text gewissermaßen mit- oder weiterwebt. Allerdings lässt sie auch keinen Zweifel daran, dass die aktuellen Bedingungen für die Kritik nicht gerade rosig sind. So trägt die Vorstellung von Literatur im Fernsehen der Bildersucht durch Inszenierungen Rechnung, die mit Action und Bildern das Wort in den Hintergrund drängen. Und Informationsflut sowie die Tendenz zur Demokratisierung im Internet (Stichwort: jede/r sein eigene/r Literaturkritiker/in) fordern eine Verschiebung von Akzentsetzungen in der professionellen Literaturkritik, etwa die Reduktion biographischer Informationen, die ohnehin im Netz leicht zugänglich sind. Allerdings so einfach ist es wiederum mit Internetrecherche nicht, denn diese erfordert ein nicht geringes Vorwissen, um die Gewichtigkeit (nicht zu reden von der Korrektheit) einzelner Informationen abschätzen zu können. Zudem verleiten die Internetinformationen zu der von der Verfasserin zurecht als fragwürdig angesehenen biographistischen Lesart von Texten.

In (Selbst-)Reflexion und angemessenem Ausdruck sieht Schwens-Harrant, hierin Stefan Neuhaus folgend, den qualitativen Unterschied von ernstzunehmender Literaturkritik im Vergleich zu klappentext- und schmutzzettelverwertender sowie zu Liebhaberäußerungen (speziell im Internet). Reflektierte Kritik und Lesbarkeit schließen einander, wie sie zurecht vermerkt, nicht aus: „Überraschung und Unterhaltung vertragen sich mit Intelligenz und Information“ – dies kann so fraglos gelten, wie die unterschwellige Auffassung fragwürdig ist, literaturwissenschaftlichen Arbeiten wäre Unlesbarkeit nachsehbar. Nicht nur in der Literaturkritik, für die journalistische Schreibweise reklamiert (aber nicht definiert) wird, sondern auch in Texten mit wissenschaftlichem Anspruch müsste sinnvoller Weise gelten, dass die hermeneutische Herausforderung des sekundären Textes die des primären nicht übersteigt. Vielmehr sollte – ein schöner Vergleich der Verfasserin – eine gute und effiziente Literaturkritik sein wie ein Reisebericht, der eine Reise nachvollziehbar machen, wenngleich nie ersetzen kann, vielmehr, übertragen auf Literatur: Lust auf Lesen wecken, mithin leseraktivierend wirken soll.

Kritik trifft Entscheidungen aufgrund „begründeten Unterscheidens“ (so ja auch der ursprüngliche Sinn des Begriffs „Kritik“), aber kein „letztrichterliches Urteil“. Denn wenngleich zwar jede Kritik (schon allein durch die Auswahl des Textes, durch Schwerpunktsetzungen in der Besprechung) eine Art Machtausübung darstellt, sollten Kritiker und Kritikerinnen so wenig Richter und Richterinnen sein wie Anwälte. Beides setzte eine Verteidigung erfordernde Anklage voraus, und das sollte Literaturkritik eben nicht sein. Was Schwens-Harrant vorschwebt, sind (mit einem Begriff von Reinhard Baumgart) „Argumentationserzählungen“, die den emotionalen Ausgangspunkt der Lektüre nicht verschütten, ihre Kriterien offen legen und erkennen lassen, dass sie jeweils nur eine von verschiedenen möglichen Lesarten anbieten. Auch insofern sollte also Kritik leseraktivierend wirken. Ja, sie kommt so ihrer eigentlichen Aufgabe, literarische Texte ins Gespräch zu bringen, nach. Dass solcherart Verständnis von Kritik sich gegen Schubladisierung von Literatur richtet, versteht sich, denn so gesehen bleiben immer auch Zweifel und Fragen offen.

Viel Bedenkenswertes (wie die erwähnte Unart biographistischer Lesart) spricht Schwens-Harrant in ihrer breit angelegten, der eigenen Forderung nach guter Lesbarkeit übrigens voll entsprechenden Studie an, vieles davon kann allerdings auch als Binsenweisheit abgetan werden, wie zum Beispiel der Hinweis auf die rhetorische Bedeutung des ersten Satzes. Da stellt sich zwangsläufig die Frage, an wen sich das Buch wendet. Die Reich-Ranickis, die von keinen Selbstzweifeln Angekränkelten, die Arroganten und Ignoranten unter den Literaturkritikern werden es nicht zur Hand nehmen. Da es in der Reihe „Angewandte Literaturwissenschaft“ erschienen ist, kann man Studierende als Zielpublikum ansehen – und da ist dann auch der Hinweis auf die Bedeutung des ersten Satzes durchaus angebracht. Aber wie auch immer, Schwens-Harrants Belesenheit ist beeindruckend, sie verwöhnt ihre Leserinnen und Leser mit schönen Zitaten, insbesondere mit ihren Motti. Ein Foucault-Zitat fasst dabei in nuce und am treffendsten zusammen, was der Autorin als Zielvorstellung vorschwebt: „Ich kann nicht umhin, an eine Kritik zu denken, die nicht versuchte zu richten, sondern die einem Werk, einem Buch, einem Satz, einer Idee zur Wirklichkeit verhilft; sie würde Fackeln anzünden, das Gras wachsen sehen, dem Winde zuhören […] ich möchte eine Kritik mit Funken der Fantasie. Sie wäre nicht souverän, noch in roter Robe. Sie wäre geladen mit den Blitzen aller Gewitter des Denkbaren.“ Ja, wer würde dann dem besprochenen Text widerstehen können und sich nicht lesend auf eine Nachreise begeben wollen?

Brigitte Schwens-Harrant Literaturkritik
Eine Suche.
Innsbruck, Wien, Bozen: StudienVerlag, 2008.
197 S.; brosch.
ISBN 3-7065-4642-3.

Rezension vom 30.12.2008

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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