#Sachbuch

Literatur und Kultur im Österreich der Zwanziger Jahre

Primus-Heinz Kucher (Hg.)

// Rezension von Kurt Bartsch

Da Literaturgeschichtsschreibung zugunsten genregemäßer narrativer Zusammenhänge zwangsläufig zu „Simplifizierungstendenz“ (Primus-Heinz Kucher) neigt, erscheinen in ihr auch die Profile einzelner Epochen eingeebnet. Damit wird allerdings dem nicht nur in Schulliteraturgeschichten durchaus legitimen Bedürfnis nach Orientierungshilfen nachgekommen und dagegen ist auch nicht viel zu einzuwenden, wenn der Konstruktionscharakter der jeweiligen literaturgeschichtlichen Ordnung bewusst gemacht beziehungsweise gehalten und der Individualität der jeweils behandelten Texte Rechnung getragen wird. Entgegenwirken kann der angesprochenen „Simplifizierungstendenz“ nur „ausdifferenzierende Spezial-Forschung“ (Kucher).

Im Besonderen gefordert sind Projekte, in denen Literaturgeschichte(n) gegen den Strich gelesen und markante Züge der Profile einzelner Epochen genauer herausgearbeitet werden. Solches unternimmt in Hinblick auf die österreichische Literatur nach der Epochenschwelle 1917/18 und in den zwanziger Jahren der vorliegende Band mit Beiträgen von einer Tagung an der Universität Klagenfurt im Dezember 2004, bei der in mehreren Sektionen speziell die früheren zwanziger Jahre unter verschiedenen Aspekten beleuchtet wurden. Damit gewinnt das Profil der österreichischen Literatur im genannten Zeitraum einiges an Deutlichkeit, vollständig erfasst kann es natürlich auch im vorgegebenen begrenzten Rahmen nicht sein. Über diesen drängen denn auch einige Beiträge, vor allem der bilanzierende des Herausgebers oder der von Daniela Strigl über die „österreichische Lyrik der Zwischenkriegszeit“, aufgrund ihrer Materialfülle hinaus. Es ist zu erwarten und wünschen, dass sie ihre einschlägigen Forschungsergebnisse noch in anderer, größerer Form präsentieren. Wie auch immer: die vorliegenden Akten des genannten Symposions enthalten jedenfalls mehr als „Vorschläge zu einem transdisziplinären Epochenprofil“, wie der Untertitel bescheiden ankündigt.

Die Tagung fand in vier Sektionen statt, deren erste sich mit „Positionierungen“ beschäftigte. Nach den traumatisierend erfahrenen Auswirkungen des Ersten Weltkriegs war die Sehnsucht nach einer Halt gebenden Orientierung besonders ausgeprägt. Entschiedenen Widerspruch melden die vorgelegten Studien gegen das Klischee an, die österreichische Literatur dieser Zeit wäre bloß eine Gefangene des „Habsburgischen Mythos“ gewesen. Allein die kulturellen Anstrengungen des „Roten Wien“ sprechen deutlich gegen eine solche Reduktion. Karl Müller geht in seinem Beitrag mit dem signifikanten Titel Eine Zeit „ohne Ordnungsbegriffe“? von den sehr unterschiedlichen Antwortversuchen des vernunftorientierten Robert Musil und des antimodernen Hugo von Hofmannsthal aus. Dessen antirationalistisches, antiliberales, antidemokratisches Postulat einer vom Glauben an einen ordo universalis geprägten „Konservativen Revolution“, die seinem Salzburger Festspielprojekt zu Grunde liegt, bot sich als Heilsrezept in den Wirren der Zeit an, verführte allerdings auch geradezu zum Missbrauch durch den austrofaschistischen Ständestaat ebenso wie durch den Nationalsozialismus.

Kucher verfolgt die unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen der gegenständlichen Umbruchszeit, wie sie sich in Briefen, Tagebüchern und Essays niedergeschlagen haben: von vage, in sich widersprüchlichen, eher rückwärtsgewandten Positionen (Hermann Bahr) und entschieden konservativen (Hofmannsthal) über die republikanische eines Karl Kraus und das lebhafte Interesse eines Arthur Schnitzler an den politischen und ökonomischen („Proletarisierung des Mittelstands“) Vorgängen, speziell auch an den medialen Neuerungen (Film!) bis hin zum linksorientierten Zionismus des kaum bekannten Eugen Hoeflich. Wie eingangs gesagt: die von Kucher ausgebreitete Materialfülle drängt über die essayistische hinaus zur größeren Form.

In der zweiten Sektion, „Gesellschaftspolitische und kulturelle Rahmenbedingungen“, leistet Walter Fähnders einen klärenden Beitrag zu der Begriffsbestimmung „Neue Sachlichkeit“, zu deren „Tatsachenpoetik“, die als eine auf „Synchronisierung von ökonomischen, sozialen, ästhetischen Prozessen“ ausgerichtete „forcierte Modernisierungsbewegung“ sich sowohl gegen traditionelle wie auch Kunstvorstellungen der historischen Avantgarden richtet, wenngleich sie durch deren Schule gegangen ist.

Der Forderung nach Transdisziplinarität kommen speziell Beiträge über die Generationsproblematik in den zwanziger Jahren – theoretisch up to date, aber für das Thema eher wenig ergiebig, die mögliche Bedeutung für die österreichische Literatur der Zeit wird wenigstens im Vorwort des Herausgebers angedeutet – und über das soziologisch eminent interessante Thema Mode. Julia Bertschik sieht in ihr einen Niederschlag der Physiognomie der Zeit und verfolgt die modejournalistische als eine typische Schreibweise neusachlicher Gebrauchsästhetik. Sie stellt zwei repräsentative Autorinnen vor, die eher konservativ ausgerichtete, gleichwohl sogar von Walter Benjamin zitierte Helen Hessel-Grund und die gebürtige Wienerin Vicky Baum, die das „Oberflächenphänomen“ Mode sowohl in literarischen Texten als auch in Beiträgen für populäre Magazine keineswegs oberflächlich, vielmehr ironisch reflektiert.

Obwohl jeweils nur auf einen Autor/eine Autorin oder einige wenige Autoren konzentriert, vermögen die sechs konkreten „Fallstudien“ über einzelne Autoren und Autorinnen in der dritten Sektion sehr wohl einige markante Züge des Epochenprofils sichtbar zu machen. So Maximilian Aue, der im Mann ohne Eigenschaften, zu dem Musil nach Ausweis seiner Tagebücher in den Jahren 1921-23 erste wichtige Schritte setzte, neue Grenzziehungen zwischen Wahnsinn und Normalität in einer nach dem Zusammenbruch ver-rückten Welt wahrnimmt.

Überraschend finden sich zwei Beiträge zu Arthur Schnitzler, den viele wohl eher der Literatur der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert als der Neuen Sachlichkeit zuordnen. Zu Recht spricht sich Luigi Reitani entschieden gegen eine solche einschränkende Festlegung aus. Im Blick vor allem auf Fräulein Else, die Traumnovelle, Spiel im Morgengrauen und Therese wird Schnitzlers gewissermaßen „neusachlich“ waches Interesse an ökonomischen Prozessen betont, das sich auch formal niederschlägt. Dazu gehört seine Begeisterung für den Film, der sich Eva Kuttenberg in ihrem Beitrag zuwendet. Sie beobachtet, dass der stark visuell ausgerichtete Autor schon „in seiner frühen Prosa […] filmische Narrations- und Organisationsformen“ erkennen lässt, und verfolgt den Autor entlang der Filmentwicklung als technischen Innovationen gegenüber offenen „Chronist[en] sich verändernder Wahrnehmungsweisen und Perspektiven“.

Einfache Kategorisierungen der „österreichischen Lyrik der Zwischenkriegszeit“ wie die Gleichsetzung einer „volkstümlichen Dichtung“ mit „deutschtümelnde[r]“ stellt Daniela Strigl beim Vergleich ideologisch unterschiedlich ausgerichteter Dichter wie Jakob Haringer, Theodor Kramer, Wilhelm Szabo und Guido Zernatto in Frage. Sie verfolgt deren Thematisierung der Spannung von Heimat und Fremder und beobachtet dabei deren Nähe zur Neuen Sachlichkeit, jedenfalls die Abkehr von Expressionismus und Rilke, aber entschieden vor allem auch von Blut- und Bodenliteratur. Im Zusammenhang mit der Darstellung der Entwicklung eines Lyrikkonzept[s] gegen den Trend durch Josef Weinheber schon in den zwanziger Jahren verweist Albert Berger auf die Romane Das Waisenhaus (1924), Paradies der Philister 1928) und Gold außer Kurs (Anfang der dreißiger Jahre), die wiewohl literatursoziologisch und kulturgeschichtlich hochinteressant, von der Literaturgeschichtsschreibung bislang ignoriert wurden. In ihnen lässt sich aber auch Weinhebers poetologische Entwicklung verfolgen, seine Abgrenzung von der Avantgarde ebenso wie von der so genannten „Asphaltliteratur“ und sein Bekenntnis zu „Sprachkunst“.
Nur einer Autorin wird eine „Fallstudie“ gewidmet, und zwar der erst in den letzten Jahren von der Literaturwissenschaft wieder entdeckten, literaturgeschichtlich noch nicht wahrgenommenen Mela Hartwig. Evelyne Polt-Heinzl liest sie im Kontrast zu Sigmund Freud und stellt deren literarischen „Kampf um die Artikulation eines weiblichen Blickwinkels für Emotionalität und Sexualität“, „eine rasante Attacke mit sprachlichen Mitteln“ gegen „die definitorische Verfügungsgewalt“ der Männer dar.

Die letzte Sektion schließlich widmete sich der Frage der Präsenz beziehungsweise der Möglichkeiten der Präsentation von Literatur aus dieser Epoche im gymnasialen Deutschunterricht. Sowohl Markus Kreuzwieser als auch Werner Wintersteiner sprechen sich gegen einen engen Kanon aus. Jener regt ein spannendes Fächer übergreifendes Projekt zu Jazz und Literatur der zwanziger Jahre (u. a. mit Romanen von Hermann Hesse, Ernst Křenek, Felix Dörmann) an, dieser überprüft nicht nur gängige österreichische Literaturgeschichten auf ihre einschlägige Tauglichkeit, sondern schlägt auch einen Katalog vor mit Kriterien zur Textauswahl für den Deutschunterricht, durch dessen Berücksichtigung man zweifellos der Vielfältigkeit der Literatur der Epoche gerecht würde.

Primus-Heinz Kucher (Hg.) Literatur und Kultur im Österreich der Zwanziger Jahre
Vorschläge zu einem interdisziplinären Epochenprofil.
Bielefeld: Aisthesis, 2007.
269 S.; brosch.
ISBN 3-89528-582-0.

Rezension vom 14.08.2007

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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