#Sachbuch

Literarische Grundbegriffe

Yomb May

// Rezension von Martin Sexl

Zu den zahlreichen Handbüchern und Lexika, die für unterschiedliche Anforderungen Wissen über zentrale literarische Grundbegriffe vermitteln, kommt nun in der bekannten ‚blauen‘ Reclam-Reihe („Kompaktwissen für Schülerinnen und Schüler“) ein weiteres hinzu. Die Auswahl der Lemmata richtet sich nach „den Lehrplänen und Richtlinien der Bundesländer“ – der deutschen, wie anzunehmen ist –, konzentriert sich also bewusst „auf das unterrichts- und prüfungsrelevante Standardwissen“ (S. 6).

Diese pragmatische Herangehensweise ist – vor allem im Sinne der Schüler/innen – löblich, aber natürlich auch nicht ganz unproblematisch, denn das Zielpublikum wird so nicht dazu motiviert, auch einmal über den Tellerrand des schulischen Kanons hinauszublicken. Aber zugestanden sei auch, dass die Kritik weder Autor noch Schüler/innen trifft, sondern einem Bildungsbegriff (für den die Schüler/innen am allerwenigsten können) geschuldet ist, der – immer nach den letzten PISA-Ergebnissen schielend – unter Wissen etwas versteht, dass man je nach Bedarf aus der Schublade ziehen kann, um es sogleich gewandt und zielsicher auf einen (am besten ökonomisch sinnvollen) Zweck anwenden zu können. Und zudem würde es ein jedes Nachschlagewerk überfordern, Kanonerweiterung und -kritik zu leisten.

Ganz unabhängig von der Angemessenheit der Auswahl der Begriffe (die entspricht durchaus dem Stand der Disziplin) oder der Qualität der Begriffserläuterungen will das schmale Büchlein zu viel auf zu knappem Raum: Da auf den 160 Seiten (im ‚Reclam-Format‘!) nicht nur die zentralen Fachtermini der Literaturwissenschaft erklärt, sondern auch „Kompaktdarstellungen der in der Schule behandelten Epochen und Strömungen der deutschen Literaturgeschichte“ (S. 5) mit kurzen Textbeispielen, deren Sinn manchmal allerdings ein wenig dunkel bleibt, geliefert werden – und so kommen dann doch rund 500 Lemmata zusammen –, bleibt für die Begriffserläuterungen selbst oft zu wenig Raum. „Außensicht“, „Epischer Bericht“ oder „Palindrom“ in drei Zeilen abzuhandeln, mag durchaus möglich sein (und die meisten Begriffe werden solchermaßen trotz der Kürze verständlich definiert), aber den Begriffen/Phänomenen „Renaissance“, „Poetik“, „Soziales Drama“ oder „Moderne“ eine halbe Seite und weniger (!) zu widmen, grenzt beinahe an Fahrlässigkeit, denn die Vereinfachungen und Verkürzungen, die dadurch notwendigerweise entstehen, sind auch beim besten Willen des Autors und trotz seiner Formulierungskünste nicht auszugleichen. Schüler/inne/n (und auch Lehrer/inne/n) ist da mit dem „Metzler Literaturlexikon“ oder vergleichbaren Nachschlagewerken doch mehr gedient.

Beispiel 1: Im „Metzler Literaturlexikon“ in der zweiten Auflage von 1990 erfährt man unter dem Stichwort „Drei Einheiten“ (des Orts, der Zeit und der Handlung), dass diese „seit dem Aristoteles-Kommentar L. Castelvetros (1576) zu den Grundanforderungen für die Gattung ‚Drama'“ gehören, im vorliegenden Reclam-Band ist es eine „[n]ormative Grundregel aus der aristotelischen „Poetik“ (S. 38) – das mag nur ein kleiner Unterschied sein, aber er ist bedeutsam: Bei Aristoteles ist von einer „Einheit des Ortes“ nicht die Rede. Im „Metzler Literaturlexikon“ wird in der Folge die Entwicklung dieser drei Einheiten und die Irrtümer der Aristoteles-Lektüren problematisiert (und nur so kann man die Entwicklung der dramatischen Gattung auch nachvollziehen und verstehen), im Reclam-Band finden sich davon nur ein paar dürre Hinweise.

Beispiel 2: Dass man unter „Poetik“ – so der Reclam-Band – die „Lehre von der Dichtkunst im Sinne einer Anweisung zum richtigen Dichten“ (S. 109) versteht, ist zweifellos richtig. Aber es findet sich kein Wort darüber, dass „Poetik“ neben dieser (sicherlich wichtigsten) Begriffsbedeutung auch noch die Bedeutung von Dichtungstheorie und Dichtungskritik mit umfasst. Dass bei der nachfolgenden Explikation nur Aristoteles und Opitz genannt werden, ist dem knappen Raum geschuldet, vermittelt Schüler/inne/n jedoch ein falsches Bild von der heterogenen und konfliktträchtigen Entwicklung des Phänomens und des Begriffs.

Zu den genannten Vereinfachungen kommt als weiteres Problem hinzu, dass einige Erläuterungen zu voraussetzungsreich formuliert sind. So fragte sich der Rezensent beim Lesen der Definition von „Emblem“ – „Kombination aus einem allegorischen Bild (pictura), einer Überschrift (inscriptio ›Motto‹) und einer epigrammatischen Unterschrift (subscriptio)“ (S. 40) – oder bei jener von „Freien Rhythmen“ – „[r]eimlose, metrisch ungebundene Verszeilen unterschiedlicher Länge“ (S. 59) –, ob alle Schüler/innen wissen, was ein allegorisches Bild, eine epigrammatische Unterschrift und ungebundene Verszeilen sind.

Als Nachschlagewerk ist dieser Reclam-Band aus der Sicht des Rezensenten also nur bedingt brauchbar. Eine kleine, feine Erinnerungsstütze – und dies keineswegs nur für Schüler/innen – ist er jedoch allemal.

Yomb May Literarische Grundbegriffe
Reclam Kompaktwissen.
Stuttgart: Reclam, 2012.
160 S.; brosch.
ISBN 978-3-15-015235-5.

Rezension vom 12.04.2012

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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