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Link und Lerke

Bernd Schuchter

// Rezension von Spunk Seipel

Ein geheimnisvolles Testament führt Ariel Link nach Hohenems. Er selbst kennt diese Stadt nur aus den Erzählungen seines Vaters. So erscheinen ihm manche Straßen als altbekannt, obwohl er sie nie gesehen hat. Die Erinnerungen anderer prägen sein Bild dieser Stadt und der Menschen, die hier leben und gelebt haben. Subjektive Eindrücke aus der erzählten Erinnerung des Vaters stehen neben den scheinbar objektiven Geschichten aus der historischen Forschung.

Der in Zürich lebende Antiquar Ariel Link erbt von einer ihm unbekannten Frau in Hohenems einen alten Sekretär, der auf dem Dachboden von Lerke Lang lagert. Link wird von der Neugier ob des seltsamen Testaments nach Hohenems getrieben: „Den Sekretär im Dachboden soll ein Herr Ariel Link, wohnhaft in Zürich, Steinerstraße 8, erhalten. Ich kannte seinen Vater gut. Der Rest ist selbsterklärend.“ Gerade dieses ‚Selbsterklärende‘ gibt Rätsel auf und ist doch ein Leitmotiv des Textes. Denn die verstorbene Frau verfügt so, dass man sich auf die Spurensuche nicht nur ihres Lebens, sondern auch auf die der jüdischen Geschichte und der Nazizeit in Hohenems begeben muss. Link und Lerke finden in einem Geheimfach des Sekretärs ein Bündel Briefe, dem die beiden ein Geheimnis entlocken, das ihre gerade beginnende Liebe unterbindet und doch etwas Neues entstehen lässt.

Hohenems, diese kleine Stadt im äußersten Westen Österreichs, ist ein Ort mit einer reichen jüdischen Geschichte. Doch die jüdische Kultur ist inzwischen nur noch im Museum erlebbar. Die Orte und Plätze sind stumme Zeugen der Schicksale der Menschen, die seit Jahrhunderten aufgrund von Verfolgungen immer wieder neue Orte zum Leben suchen mussten. Hohenems war wegen einer liberalen Politik bis ins späte 19. Jahrhundert die größte jüdische Gemeinde Westösterreichs. Hier gründete 1797 der aus Augsburg stammende Herz Jakob Kitzinger das erste Kaffeehaus Vorarlbergs. Hier gab es reiche, vor allem innovative jüdische Industrielle und ein ganzes Judenviertel. Geblieben sind nur steinerne Zeugnisse. Die Geschichte der Juden von Hohenems fand ein tragisches Ende in der Nazizeit, als viele Juden aus Deutschland und Österreich von hier über den Rhein in die Schweiz zu fliehen versuchten.

Die deportierten Juden kamen nicht zurück. Die Synagoge wurde von der Gemeinde zum Feuerwehrhaus umgewandelt. Der jüdische Friedhof nur unter Protesten aus der Schweiz nicht dem Erdboden gleichgemacht. Heute hat Hohenems zwar ein jüdisches Museum, doch die arisierten Gegenstände, die Möbel zum Beispiel, wo sind sie geblieben? Diese Frage beschäftigt Ariel Link. Sind sie nicht Zeuge dafür, dass sich über die Verbrechen ein Schweigen ausgebreitet hat? Wissen viele Erben über die Geschichte der Gegenstände nichts, weil über ihre Herkunft geschwiegen wird? Man müsste an ihre Geschichte wieder erinnern, sie wieder zum ‚reden‘ bringen, meint Ariel Link.

Gerade das Schicksal der Flüchtlinge und Deportierten, die ihr Hab und Gut zurücklassen mussten, versucht Schuchter dem Leser näherzubringen, indem er in kurzen Bildern Einzelschicksale nachzeichnet. Kurze biografische Notizen spiegeln so ein Bild von Hohenems während des Nationalsozialismus. Die Geschichten von Opfern werden neben jene von Tätern gestellt, Fakten neben Fiktion gesetzt. Das Mittel der Textcollage hat hier seine natürliche Berechtigung und macht das Buch zu einem komplexen Werk.

Vor allem aber zeigt Bernd Schuchter auf, wie in dem kleinen Ort die Politik, die ganz woanders gemacht wurde, sich auf teils tragische Weise auswirkte. Wie Menschen diese benutzten, um sich auf Kosten anderer zu bereichern. Wie Flüchtlinge, die über den Rhein entkommen sind, in der Schweiz von der Abschiebung bedroht waren. Menschen wie der Schweizer Zöllner Grüninger riskierten ihre Karriere, um Juden die Flucht in die Schweiz zu ermöglichen, während die Regierung in Bern Gesetze erlassen hatte, um Flüchtlinge in ihren sicheren Tod zurückzuschicken.

Bernd Schuchter bringt in seiner Textcollage Link und Lerke diese Zeit wieder zum ‚reden‘. Denn ohne Erinnerung, ohne Literatur wird die Geschichte nicht lebendig, verliert auch ihren Sinn. Zugleich hinterfragt der Autor mit seinem Buch die Authentizität von Erinnerungen. Wie funktionieren sie? Warum kann man sich manchmal an ganz bestimmte Bilder, Momente oder Personen intensiver erinnern als an objektiv scheinbar wichtigeres? Schuchter zitiert Autoren wie W.G. Sebald und Stendhal, um sich dessen, was Erinnerung bedeuten kann, zu vergewissern. Der Roman Link und Lerke führt die Problematik durch intensive Bilder in einer sehr dichten Sprache vor.

So gelingt Schuchter in der Erzählung einer kleinen zarten Liebesgeschichte, die einen durch die Taten der Eltern bedingten überraschenden Ausgang findet, ein Text, der die jüdische Geschichte von Hohenems und die Verbrechen der Nazizeit sowie den Umgang mit diesen zum Thema macht. Das Buch zeigt auf, dass die Geschichte nicht vergangen ist, sondern sich bis heute  auf unser Leben auswirkt. Zugleich, und das hängt mit diesem Thema auf das engste zusammen, hinterfragt er auf das Dringlichste, was das menschliche Gedächtnis ausmacht, was es prägt, wie es funktioniert.

Das macht dieses Buch so wichtig: dass es aus dem Kleinen, aus der Stadt Hohenems, die im Windschatten der großen Politik stand, aus biografischen Skizzen und subjektiven Erinnerungen und Gefühlen auf das große Allgemeine schließen lässt.

Link und Lerke.
Roman.
Innsbruck: Edition Laurin, 2013.
160 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-902866-07-3.

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Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 21.03.2013

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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