Ein Teil der Briefe wurde in Auszügen in der Sekundärliteratur bereits zitiert, nun liegen erstmals alle erhaltenen Konvolute vor, sorgfältig ediert, kommentiert und mit einem umfangreichen Nachwort versehen von Elisabeth Buxbaum, in dem auch die Lebensgeschichte Gertrud Spirks nachgezeichnet wird. Die beiden lernten einander im November 1915 im Prager Garnisonsspital kennen, wo sie als freiwillige Krankenschwester arbeitete und Werfel eine Beinverletzung auskurierte. Noch war Werfel bei den diversen Nachmusterungen als untauglich durchgegangen. Das änderte sich im Februar 1916, Werfel wird eingezogen und kommt bald nach Ostgalizien. Als Telefonist und Meldegänger der Fernsprechtruppe ist er zwar nicht direkt an der Front, aber auch der Alltag in der Etappe ist Werfel schwer erträglich. Es mag ein Jammern auf hohem Niveau sein, immerhin fand er doch immer wieder Zeit, Muße und Gelegenheit zum Arbeiten, u. a. am Gedichtband „Gerichtstag“, erschienen 1919. Mitunter wird Werfel das Unangemessene seiner ständigen Leidensberichte auch bewusst „[…] denke Dir meinen Schmerz u. die Qual nicht allzu gross“, schreibt er ihr am 24. Februar 1917, „alles Geschriebene ist ja so übertrieben, ich lebe ganz gut u. bin leider nicht das zerbrechliche [!] Instrument, das diese Ströme von Sinnlosigkeit nicht ertragen könnte. Ich bin meist mit den andern sinnlos, Stein unter Steinen. Ich bin mir deshalb oft furchtbar.“ (S. 147)
Zweifellos bedeutete der dichte Briefverkehr mit Gertrud Spirk für Werfel in seiner exponierten Lage am Rande der Monarchie eine wichtige Verbindung zur Normalität des Lebens vor dem Krieg. Das zeigt sich auch in jener Periode, als Karl Kraus methodisch an Werfels Abschlachtung ging und der Abgeschlachtete oftmals nur gerüchtehalber davon erfuhr, da er die entsprechenden „Fackel“-Hefte nicht in die Hände bekam. Natürlich war Werfels Reaktion mit einer ausführlichen schriftlichen Erwiderung ungeschickt, um kein krasseres Wort zu verwenden, aber diese Briefedition zeigt auch das prinzipiell Bedenkliche, wenn Kraus, sicher an seinem heimischen Schreibtisch sitzend und durch seine Rückgratverkrümmung vor einer Einberufung geschützt, Seite um Seite an der Demolierung Werfels arbeitet, der in seinem Soldatenquartier mit seinem Schicksal hadert. In einem Brief Werfels ist übrigens eines der vielleicht stimmigsten Urteile über Kraus‘ Charakter enthalten: „Sein ganzes Werk ein ununterbrochener Alibibeweis eines Menschen, von dem man gar kein Alibi verlangt.“ (S. 130)
Mit Juni 1917 gelingt Werfel dann – auch dank Interventionen seines Vaters – der rettende Sprung ins Kriegspressequartier. Damit ändert sich alles radikal, auch im Verhältnis der beiden Liebenden, die lange Zeit an eine gemeinsame Zukunft dachten, zumindest in den Briefen davon fantasierten. Wieder in Wien ist Werfel nicht mehr von der „Zivilisation“ abgeschnitten, genießt die Kontakte mit Kollegen und führt ein rastloses Sozialleben, das er in seinen Briefen mit innerem „Chaos“ (S. 193) umschreibt. Noch radikaler freilich wird die Entfremdung dann ab November 1917, als Werfel Alma Mahler kennen und sofort lieben lernt. Liest man die „danach“ an Gertrud Spirk geschriebenen Briefe, verliert auch der Ton jener Briefe, die Werfel am Höhepunkt ihrer Liebesbeziehung schrieb, ein wenig an Glaubwürdigkeit. „Ich weiss es, dass wir beide für einander da sind! Untrennbar sind“ (S. 221), schreibt Werfel noch im März 1918 an die einstige Geliebte, als er in mehreren Schreiben die Beziehung zu beenden sucht.
Auch wenn die Briefe meist nicht sehr tiefschürfend sind und Berichte über die Alltagssituation der beiden Briefpartner samt Liebesbeteuerungen dominieren, geben sie doch auch Auskunft über Werfels literarische Arbeiten in dieser Zeit und enthalten manch kleine Trouvaille, was Werfel mitten im Ersten Weltkrieg beschäftigt hat. Am 21. Februar 1917 zum Beispiel „Folgende Frage! Kann man schöner sein oder werden durch seinen Willen, als man ist? Nein! Denn schliesslich, ob man turnt oder Aufregungen vermeidet, ist dasselbe kosmetische Mittel als ob man sich schminkt. Ein Schwindel, eine mehr oder minder raffinierte Lüge! Kann man nun durch seinen Willen besser sein oder werden, als man gut ist? Oder ist die Moralisierung auch ein Schwindel? Ist man ewig dazu verdammt das zu sein, was man ist! Diese Frage und die Erkenntnis des Ichs quälen mich recht.“ (S. 146)