#Lyrik

Liebesgedichte

Friederike Mayröcker

// Rezension von Sabine E. Dengscherz

„das ist das alte Jahr die Träne / quillt die Hunde bellen die Steine / unter meinen Füszen weinen das ist / das alte Jahr …“
Silvester 2005, es gibt nichts zu feiern, die Trauer schiebt sich zwischen das Fest und die Einsamkeit. Die Kälte der Steine und Friedhofsmauern kriecht bis in die gute Stube und in die Sprache und wird wieder ganz real, wenn draußen die Korken knallen, ein schriller Kontrast zur Stille daheim. Ist es so?

Friederike Mayröckers Liebesgedichte der letzten Jahre sind Texte der Sehnsucht und des Abschieds. Ihre Liebesgedichte der Jahrzehnte davor sind Texte der Nähe, der Begegnung, auch sie nicht ganz frei von Tränen, und auch diese sind nicht immer Tränen des Glücks. Doch das Du, das Gegenüber, ist stark und nah: „und du bist da : / Tropfen an meinem Fenster / Wange voll Wärme und Wind“.

Die Schriftstellerin und Verlegerin Ulla Berkéwicz hat aus der Fülle von Friederike Mayröckes lyrischen Texten eine Sammlung von Liebesgedichten zusammengestellt, die ein halbes Jahrhundert der Freundschaft mit und Liebe zu Ernst Jandl widerspiegeln sowie ein halbes Jahrzehnt Schmerz, nachdem der Verlust keine Angst mehr, sondern scharfe Realität geworden ist: „Mayröcker hat den meisten Lesern den Schmerz voraus, den Schmerz, vor dem jeder Angst hat, die Angst des Ich vor dem Tod des Du“, merkt die Herausgeberin im Nachwort an.

Die Texte stammen mit einer Ausnahme alle aus der 2004 erschienenen Suhrkamp-Ausgabe „Friederike Mayröcker, Gesammelte Gedichte 1939-2003“; das eingangs zitierte Gedicht „das ist das alte Jahr die Träne“ hingegen wurde in der vorliegenden Sammlung erstmals veröffentlicht. Die Auswahl der Texte dürfte nicht ganz leicht gewesen sein, geistert die Liebe als Motiv und Thema doch durch so viele Gedichte Friederike Mayröckers.
Berkéwicz‘ Zusammenstellung zeichnet ein bewegendes Bild über mehr als ein halbes Jahrhundert, in dem die Vergänglichkeit auch schon am Anfang steter Begleiter ist, aber eben doch nicht zuletzt durch das Schreiben Aufschub erlangt, wenn es etwa um 1950 heißt: „wird welken wie Gras – auch meine Hand und die Pupille / wird welken wie Gras – mein Fusz und mein Haar mein stillstes Wort …“.

Es geht auch fröhlicher: „Wie ich dich nenne / wenn ich an dich denke / und du nicht da bist : / meine Walderdbeere / meine Zuckerechse / meine Trosttüte / mein Seidenspinner … mein Hirschenkopf / meine Hasenpfote / mein Treppenfrosch …“
Die Schwermut schleicht sich zwar doch immer wieder ein, ist aber nicht allgegenwärtig in den ersten 50 Jahren. Aber auch das Leben schleicht sich immer wieder ein, kommt selbst am Ende durch, wenn der Tod sich wegschreiben und der Geliebte sich herbeischreiben lässt. In Worten und Gedanken leben auch die Toten weiter und stehen wieder auf und sind uns nah: „ich denk an dich das ist das alte Jahr / kommst mir entgegen in der Stadt dein / Mantel weht es winkt die Hand das ist / das alte Jahr wir werden uns wiedersehen“.

Friederike Mayröckers Lyrik ist immer wieder ein Erlebnis, ihre komprimierte und verschränkte Sprache ebenso anarchisch wie poetisch und hier auch thematisch besonders berührend. Die Sammlung ist ein Buch, das nicht viel wiegt und doch so voller Leben ist bis über den Tod hinaus. Man trägt es gern mit sich herum und drückt ihm Lesespuren auf, immer wieder, wochenlang. Im alten und im neuen Jahr.

Friederike Mayröcker Liebesgedichte
Gedichte.
Ausgewählt von Ulla Berkéwicz.
Frankfurt am Main, Leipzig: Insel, 2006.
141 S.; brosch.
ISBN 3-458-34914.

Rezension vom 04.12.2006

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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