Das ist das Erste, was bei der Lektüre auffällt, denn das Ordnungsprinzip des Bandes ist kein topografisches, es folgt alphabetisch den aktuell gültigen Bezeichnungen der 347 benannten Bauten, die über die historischen Abgründe hinweg überraschend konstant geblieben sind. Weder Austrofaschismus noch Nationalsozialismus haben größerflächige Umbenennungen vorgenommen. Das bekannteste Gegenbeispiel ist der Karl-Marx-Hof, der nach der Niederschlagung des Arbeiteraufstands von 1934 Karl-Biedermann-Hof heißen sollte, nach dem der Strategen der Beschießung des Arbeiterwohnkomplexes. Schließlich entschied man sich aber für die neutralere Version Heiligenstädterhof, zugleich ein günstiger Zusammenklang von Heiligkeit – der Austrofaschismus hat sich ja vor allem mit Kirchenbauten in den Stadtraum von Wien eingeschrieben – und historischem Flurnamen. Darauf griff man auch 1935 beim Austerlitzhof zurück, der noch heute als Rabenhof firmiert – die Wiener Stadtregierung hat auf eine Rückbenenneng nach 1945 vergessen oder verzichtet, und das heute dort ansässige Rabenhoftheater hat sich mit diesem politischen Aspekt seiner Hausgeschichte bislang nicht beschäftigt.
Die wenigen eher peinlichen Benennungen – das Recht dazu liegt nicht bei der Gemeinde Wien, sondern in den Bezirken – fallen im Übrigen in die 1950er- und frühen 1960er-Jahre und betreffen just Schriftsteller. Allen voran der 1964 benannte Ginzkeyhof im 1. Bezirk. Franz Karl Ginzkey war Beiträger im „Bekenntnisbuch“, mit dem österreichische Dichter 1938 den Einmarsch Hitlers begrüßten, und er passte seinen Kinderbuchklassiker Hatschi Bratschis Luftballon willig dem Geist der Zeit an: Ernst Dombrowski, der nach 1945 als feinsinniger, christlich geprägter Holzschneider hohes Ansehen genoss, verlieh dem bösen Zauberer Züge des „verschlagenen Juden“, die er direkt dem Stürmer entnahm.
Auch die anderen Benennungen nach SchriftstellerInnen sind nicht besonders glücklich: 1953 erhielt Karl Schönherr einen Hof im 9. Bezirk, 1962 benannte der 10. Bezirk einen Bau nach Rudolf Brunngraber, immerhin ein Erfolgsautor während des NS-Regimes, 1990 erhielt Christine Busta einen Gemeindebau im 16. Bezirk. Da hätten sich Jura Soyfer, Jean Améry, Hermann Broch, Robert Musil, Theodor Kramer oder Elias Canetti doch eindeutig eher angeboten. Irgendwie tragisch ist auch der Arthur-Schnitzler-Hof, benannt zum 100. Geburtstag des Autors 1962, er wurde 1959/60 auf dem kurz vor Kriegsende von einem Bunkerbau unterminierten Abschnitt des großen jüdischen Friedhofs Währing erbaut.
Nicht unproblematisch war freilich schon der 1927 benannte Alfons-Petzold-Hof im 11. Bezirk. Petzold war 1914 einer der großen Kriegsbarden. „Habe in den letzten Tagen in die lyrische Kriegsposaune geblasen und bis heute 11 feine Kriegslieder und Gedichte geschrieben. Auch wir Roten haben nicht vergessen mit Tat und Wort das Vaterland zu schützen“, schrieb er am 11. August 1914 stolz in sein Tagebuch, und das war erst der Anfang. Natürlich hat sich Petzold – wie viele Kriegsverherrlicher der ersten Stunde auch – mit dem sichtbar werdenden Ausmaß des Elends an der Front wie im Hinterland später wieder abgewandt, aber es war doch der große Krieg, der ihm Durchbruch und Anerkennung verschafft hat. 1914 erhielt er den Eduard Bauernfeld-Preis und 1917 eine Ehrenpension der Stadt Wien.
Peter Autengruber und Ursula Schwarz führen reflektiert und zurückhaltend durch die heroische Baugeschichte des roten Wien, die Jahre des Wiederaufbaus und des sozialen Wohnbaus bis 2004. Mit diesem Jahr sistierte die Gemeinde Wien das Projekt „Gemeindebau“ und outsourcte die Frage leistbarer Wohnungen endgültig an „gemeinnützige Wohnbauträger“. Dass Wilhelm Frass, illegaler Nationalsozialist seit 1933 und Vergraber der ominösen Metallhülse mit NS-Inschrift am Heldendenkmal im Burgtor, an einigen Gemeindebauten – u. a. am Goethehof im 22. – beteiligt war (S. 37), wird ebenso wenig verschwiegen wie die Mitarbeit des späteren NS-Kriegsverbrechers Wilhelm Paul Wohlmeyer an einem Gemeindebau im 14. Bezirk, der 2011 nach Johanna Dohnal benannt wurde (S. 129). Übrigens gibt es unter den Gemeindebauten zwar einen Fröhlichhof, benannt nach Grillparzers Verlobter Kathi Fröhlich, aber keinen Grillparzerhof. Der erste bezugsfertige Gemeindebau war übrigens 1925 der Metzleinstalerhof im 5. Bezirk. Bereits enthalten ist in dem Band auch die jüngste Benennung: Im Mai 2013 wurde der Ernst-Hinterberger-Hof im 5. Bezirk benannt, jener Gemeindebau, in dem der Autor der TV-Serien Ein echter Wiener geht nicht unter, Kaisermühlen-Blues oder Trautmann bis zu seinem Tod gewohnt hat.
Dass die Schreibweise der Bezeichnungen nicht einheitlich ist – einmal wird mit, einmal ohne Vornamen alphabetisiert, in drei Fällen (Harry Glöckner, Friedrich Jodl, Rudolf Boeck) sogar nach dem Professorentitel, macht die Navigation im Band nicht immer ganz einfach. Genau aufgeführt werden jeweils die vielen Arbeiten im Rahmen der Aktion „Kunst am Bau“, die KünstlerInnen ein Forum öffentlichen Wirkens ebenso boten wie eine ordentliche Verdienstmöglichkeit. Von dieser Logik hat sich die Gemeinde verabschiedet, „Mitte der 1970er-Jahre erlahmt die Kunst-am-Bau-Tätigkeit“ (S. 34) – zeitgleich mit der Neuorganisation des Kunstsektors, der ab nun mit Preisen und Stipendien das ökonomische Überleben der KünstlerInnen absichern sollte. Und seit 2009 kommt der MA 7 (Kulturabteilung) in der Benennungsfrage nur mehr beratende Funktion zu, zuständig ist die MA 69 (Liegenschaftsmanagement).
Die Architekten der einzelnen Bauten werden genannt und finden sich ebenso wie die Namen der Künstler im Anhang in einem alphabetischen Verzeichnis aufgelistet. Was der Band freilich nicht leisten kann, ist eine Auseinandersetzung mit architekturhistorischen Fragestellungen. Dass die Bautätigkeit der Gemeinde Wien in der Ersten Republik bis heute mehr als sozialpolitische Tat wahrgenommen wird, denn als Projekt der Moderne, hat wohl damit zu tun, dass kaum Architekten der künstlerischen Moderne dabei beschäftigt waren – mit Ausnahme einiger baulicher Experimente wie der Werkbundsiedlung, zu der 32 Architekten eingeladen wurden, darunter auch Otto Strnad, Adolf Loos oder Margarethe Schütte-Lihotzky. In ihrem Fall wurde im Übrigen ein einziges Mal die so genannte Interkalarfrist – die eine Benennung erst ein Jahr nach dem Tod des Geehrten erlaubt – missachtet, zu ihrem 100. Geburtstag wurde ein von den Architektinnen Liselotte Peretti und Franziska Ullmann im 21. Bezirk geplanter Gemeindebau nach ihr benannt.
Die Architekten kamen vor allem aus der Tradition der imperialen Geste der Otto-Wagner-Schule, Parteibindung spielte dabei kaum eine Rolle, vielleicht auch, weil für die monumentalen Superblocks ein Denken in diesen Dimensionen durchaus nützlich war. Doch die Option für die Blockverbauung – und gegen die Gartenstadt-Idee – war auch ein Bekenntnis zur modernen Großstadt; die Entscheidung, von den zulässigen 85 % jeweils nur 40 % zu verbauen, garantierte trotzdem einen hohen Freizeitwert. Dass der Großteil der beschäftigten Architekten noch in der Monarchie ausgebildet worden war, mag auch damit zu tun haben, dass die Gemeinde Wien im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit „planmäßig arbeitsintensiv baute“ (Friedrich Achleitner). Technologische Rationalisierungen und damit die Frage nach einer neuen Ästhetik für neue Verfahrensweisen und Baustoffe waren daher programmatisch kein Thema. Diese Vorgabe galt übrigens auch für künstlerisch avancierte Bauprojekte wie die Werkbundsiedlung in Lainz.
Das stellt die Frage des Moderne-Begriffs in ein neues Licht, gewissermaßen Sozialpolitik – Kampf gegen Arbeitslosigkeit und Wohnraum für alle – versus technisches Experiment. Auch wenn zweifellos stimmt, dass die Auftraggeber in der Gemeinde Wien genauso wie die künftigen Mieter bombastischer Außen- und kleinbürgerlicher Innenausstattung durchaus gewogener waren als ästhetischen wie wohnraumtechnischen Experimenten. Der Heimhof von Otto Rudolf Polak-Hellwig und Carl Witzmann im 15. Bezirk ist hier eine der wenigen Ausnahmen. Als die Fassaden um 1930 deutlich „sachlicher“ wurden, war das keine ästhetische, sondern eine rein ökonomische Entscheidung der Gemeindeverwaltung.
Architekten mit reflektierter Nähe zur Moderne wie Brenner, Frank, Lichtblau, Plischke, Schuster, Schütte-Lihotzky, Sobotka, Strnad, Vetter, kamen jedenfalls kaum zu Aufträgen bei den zwischen 1924 und 1933 mehr als 60.000 fertiggestellten Wohnungen. Ein Sonderfall war der Winarskyhof im 20. Bezirk. Über die Vorgeschichte des Winarsky-Hofes hat Margarete Schütte-Lihotzky wiederholt berichtet. Otto Neurath habe als Generalsekretär des Österreichischen Verbandes für Siedlungswesen dem Wiener Baustadtrat vorgeworfen, dass die Vergabepraxis für den Gemeindewohnbau an den international berühmten Wiener Architekten völlig vorbei gehe. Darauf erhielt der Verband den Auftrag zur Planung des Winarsky-Hofes und organisierte dann die Weitergabe der Projektierung an die Modernen. So wurden neben Peter Behrens, der für den größten Abschnitt zuständig war, auch Josef Hoffmann, Adolf Loos, Oskar Strnad, Josef Frank, Oskar Wlach und Franz Schuster mit jeweils kleineren Einheiten betraut.
In der Literatur der Zeit fanden die sozialen wie wohnbautechnischen Anstrengungen der sozialdemokratischen Wiener Gemeindeverwaltung, finanziert über „Reichensteuern“, die damals „Luxussteuern“ hießen und progressiv für leer stehende Wohnräume, Autos, Pferde oder den Besuch von Vergnügiungsetablissements des gehobenen Segments eingehoben wurden, überraschend wenig Resonanz – selbst in jener, die der Arbeiterbewegung nahe stand, sieht man von agitpropartigen Auftragswerken für Feiern und Jubiläen ab. Eine unerwartete Hommage an das Rote Wien ist in Rudolf Hans Bartschs Grenzland-Roman Die Apotheke zur blauen Gans (1928) zu finden. Der Gehilfe Theo fährt aus der Kleinstadt im südlichen Grenzraum nach Wien und sieht die Stadt zu ihrem Vorteil verändert: „Man sah auf Schritt und Tritt, daß hier eine neue, gut geordnete Menschheit erstand. […] Besonders unter Arbeitern und armen jungen Leuten wuchs ein neuer Wiener empor. Belehrter, disziplinierter. Und vor allem viel stolzer als der von ehedem. […] Die Stadt war nüchterner geworden, aber durchaus nicht schlechter.“