#Sachbuch

Lexikon der österreichischen Exilliteratur

Siglinde Bolbecher, Konstantin Kaiser

// Rezension von Sigurd Paul Scheichl

Für die Wiener Zeitschrift SCHRIFT / zeichen (erscheint Sommer 2001) habe ich dieses wichtige Buch sehr lobend besprochen.
Da wissenschaftliche Gesichtspunkte an jenem Ort nicht angebracht sind, nütze ich die Möglichkeit des Internet, um aus germanistischer Sicht einige Ergänzungen zu diesem Buch, auch Einwände dagegen anzuführen, die vielleicht von Nutzen sein können – ohne dass sie meinen hohen Respekt vor der enormen Arbeitsleistung von Bolbecher und Kaiser einschränkten. Die folgenden Ausführungen sind keine Rezension; eine solche würde selbstverständlich sehr viel mehr Zustimmung enthalten, ja Begeisterung über die so engagierte wie gründliche Ermittlung vieler unbekannten Fakten.

Irritierend ist die unterschiedliche Gewichtung der Biografien; Extremfälle sind die unbegründet bleibenden Null-Biografien – von Robert Friedländer, Hanna Fuchs und anderen. Auch wenn man gelegentlich den Eindruck hat, mancher der Behandelten habe Bolbecher und Kaiser (nicht persönlich, aber emotional) näher gestanden als andere, ist für solche Unterschiede doch in erster Linie die Quellenlage maßgebend; und da kann man sich darauf verlassen, dass Verfasserin und Verfasser sich um eine möglichst vollständige Sammlung der Informationen bemüht haben.

Problematisch sind die Auswahlkriterien. Die Autorinnen und Autoren der Bukowina aufzunehmen, hat zwar seinen Sinn, wegen der Qualität ihres Werks und der unzweifelhaft österreichischen literarischen Tradition, in der sie stehen; aber ihr Schicksal in den Jahren der Verfolgung war doch ein spezifisch rumänisches. Ich fürchte, dass sie deshalb auch niemand in diesem Buch suchen wird. Für ebenso fragwürdig halte ich es, jene, die unter den Bedingungen des Exils literarisch weiter zu arbeiten versucht haben, in einem Zusammenhang mit denen zu behandeln, die Österreich lange vor 1933 verlassen haben (Ben Gavriêl, David I. Neumann), oder mit Gegnern des Nationalsozialismus, die schon vor 1938 gestorben sind (Walter Rode, Stefan Großmann). Wiederum ganz anders zu beurteilen ist ein Autor wie Alexander Charim, der sich erst nach 1945 in Österreich niedergelassen hat, sind Tamar Radzyner (deren Kurzbiografie übrigens nicht ganz im Einklang mit dem angeführten Geburtsdatum zu stehen scheint) oder Milo Dor. Jene, die in die Lager gepfercht oder als Widerstandskämpfer hingerichtet, im besten Fall mit einem Schreibverbot belegt worden sind, sind den Vertriebenen zwar zumeist durch die Gesinnung verbunden, doch Literatur haben sie unter ganz anderen Bedingungen geschrieben als die Exilierten. Die Einbeziehung eines Michael Guttenbrunner, der vor 1945 nichts veröffentlicht und wohl nur wenig geschrieben hat, ist selbst für einen Bewunderer dieses Autors schwer verständlich; nicht viel anders verhält es sich mit Franz Kain. Und da selten in der neueren Geschichte der Literatur so viel gelogen worden ist wie beim Anspruch, ‚innerer Emigrant‘ gewesen zu sein, halte ich es für besonders bedenklich, Schriftsteller, die zu Recht oder zu Unrecht behauptet haben, vom Nationalsozialismus nicht korrumpiert worden zu sein, die aber im Großen und Ganzen weiterhin in Deutschland publizieren konnten, in ein Verzeichnis von Opfern des Nationalsozialismus aufzunehmen. Für jede Einzelentscheidung von Bolbecher und Kaiser (die in den betreffenden Artikeln differenziert argumentieren) mag es gute Gründe geben – ich kann aber nicht nachvollziehen, warum Lernet-Holenia und Erika Mitterer vorkommen, Ludwig von Ficker oder Rudolf Henz nicht. Statt „einige wenige exemplarische Fälle“ der ‚inneren Emigration‘ ins Lexikon aufzunehmen, wäre es klüger und unmissverständlicher gewesen, sie in der Einleitung „zur Diskussion“ zu „stellen“ – darunter vielleicht auch den besonders problematischen, aber auch besonders gut dokumentierten Arnolt Bronnen.
Insgesamt ist die Tendenz unübersehbar, die literaturhistorischen und literatursoziologischen Kriterien ‚Exil‘ und ‚Widerstand‘ durch ein letztlich kaum operationalisierbares Gesinnungskriterium zu ersetzen.
Die ähnlich zu erklärende Tendenz, Personen zu verzeichnen, die eigentlich nicht in dieses Lexikon gehören, führt überdies zu großer Unschärfe des Literatur-Begriffs: Gesinnungs- und Literatur-Kriterium stehen manchmal in Widerspruch zueinander. Sind Personen, die dem Hörensagen nach im Lager ein paar nicht erhaltene Texte geschrieben haben (etwa Käte Leichter – deren politische Bedeutung selbstverständlich außer Frage steht), der (Exil-)Literatur zuzurechnen? Ferner nenne ich ungern jemand Schriftstellerin, wenn es von ihr nur ein paar unveröffentlichte Manuskripte im Nachlass gibt (vgl. Erich Fritz Schweinburg, Gerda Schreyer, Armin und Erich Freudmann, Ulrike Prohaska). Die häufigen Selbstverlags- und Selbstzahler-Verlags-Veröffentlichungen sind im Grunde ebenfalls keine Veröffentlichungen.

Andererseits fehlen Namen: Wieso wird Balász Béla behandelt, der immerhin zeitweise ebenfalls in Wien lebende Georg von Lukács nicht? Da in dem Buch zahlreiche jiddische Autoren und sonst so gut wie alle Autoren aus der Bukowina vorkommen, wundert man sich, dass Itzig Manger (1901-1968) aus Czernowitz eines Artikels nicht für würdig befunden worden ist. Unter den in großer Zahl verzeichneten Autoren aus Böhmen und Mähren vermisse ich Louis Fürnberg und Ludwig Steiner, den ermordeten Literaturkritiker des Prager Tagblatts.
Da einer Reihe von (nachmaligen) Germanisten biografische Artikel gewidmet sind, erstaunt das Fehlen von so prominenten Vertretern des Fachs wie Paul Hoffmann (im Exil in Neuseeland, später Professor in Tübingen), Margarita Pazi (in Palästina bzw. Israel) und Richard Thieberger (zuletzt Professor in Nizza), die alle zudem auch im literarischen Leben entweder Österreichs oder ihrer Exilländer eine Rolle gespielt haben. Gustav Kars (in Indien, Neuseeland und dann bis zu seinem Tod in Frankreich) hätte als Germanist und Essayist ebenfalls Aufnahme finden können oder müssen. Martin Esslin und Erich Heller sind ebenfalls schwer zu erklärende Lücken in diesem Bereich.
Jedenfalls geht mir Hugo Wolf ab, ein Mitarbeiter der frühen Fackel, Lyriker, Verfasser mehrerer Romane und vieler Kurzgeschichten, der allerdings im Exil (U. S. A.) nichts mehr veröffentlicht haben dürfte; ebenso Ferdinand Stärk (Australien); Ernst Schwarz (Shanghai, dann DDR), der Sinologe und Laudse-Übersetzer; Norbert Hoffmann, der nach Palästina entkommene Herausgeber der Wiener Zeitschrift Menorah; der erst spät mit einem Roman hervor getretene Helmut Selkowitsch; der wohl nur wegen seines Todes im Jahr 1940 nicht deportierte Librettist Viktor Leon; Ilse M. Aschner (die aus England nach Wien zurück gekehrt ist; vgl. Haslingers Politik der Gefühle). Sein gewichtiges, in der Deutschen Demokratischen Republik heftig umstrittenes Faust-Libretto hätte auch die Aufnahme des Komponisten Hanns Eisler gerechtfertigt, ja nötig gemacht. Selbst der 1947 in London gestorbene ‚Literat ohne Werk‘ Ernst Polak (Pollak) ist wahrscheinlich literarisch wichtiger als manche der aufgenommenen ‚Autorinnen‘ und ‚Autoren‘. Ob schließlich Saul Rafael Landau (gest. 1943) und sogar William S. Schlamm so „ausschließlich durch journalistische Arbeiten“ hervor getreten sind, dass man sie ausschließen kann, bezweifle ich.
Eine kleine Überprüfung ergab, dass in den Listen von Autorinnen und Autoren, die Strelka in der von Zeman heraus gegebenen Literaturgeschichte als Repräsentanten der österreichischen Exil-Literatur anführt, einige Namen aufscheinen, die hier fehlen. Ich maße mir kein Urteil an, ob sie hier zu Recht fehlen und dort zu Unrecht angeführt sind oder ob sie an beiden Orten vorkommen müssten.

Einige kleinere Fehler und Lücken in den insgesamt sehr verlässlichen und vollständigen Angaben: Intellektuelle Emigration aus Österreich (vor Allem in die Länder des Deutschen Bundes) war im Vormärz und nach 1848 ein weiter verbreitetes Fänomen, als das Vorwort annimmt (S. 10). Otto Basils Zeitschrift hieß Plan und nicht „Der Plan“. Auf S. 126 ist ein Satz mit einer wichtigen Information so unglücklich formuliert, dass man nicht recht weiß, ob nun Brunngraber oder Szabo eine wichtige Schuschnigg-Rede geschrieben hat. Der korrekte Titel von Hans Eberhard Goldschmidts Buch lautet: Von Grubenhunden und aufgebundenen Bären im Blätterwald. Bei Margul-Sperber vermisst man den Hinweis auf seine antinazistischen publizistischen Aktionen sowie die Angabe der besten Auswahlausgabe (Alfred Margul-Sperber: Geheimnis und Verzicht. Das lyrische Werk in Auswahl, hrsg. von Alfred Kittner, Bukarest: Kriterion 1975) und der wichtigsten Veröffentlichung über ihn (Peter Motzan: Der Lyriker Alfred Margul-Sperber. Ein Forschungsbericht, in: Anton Schwob, Hrsg.: Die deutsche Literaturgeschichte Ostmittel- und Südosteuropas von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute. Forschungsschwerpunkte und Defizite, München 1992, S. 119-136), wie insgesamt in Hinblick auf die Autoren der Bukowina die Bibliografie von Erich Beck samt ihrer Fortsetzung hätte angeführt werden müssen. Perutz hat nicht am Judas des Leonardo, sondern an Nachts an der steinernen Brücke jahrzehntelang gearbeitet. Der amtliche Vorname Tuvia Rübners in der Slowakei war Kurt Erich. In der Bibliografie von Eugenie Schwarwald ist die 1995 veröffentlichte Sammlung von Feuilletons Die Ochsen von Topolschitz nachzutragen.
Zwei Übersetzungsfehler: Auf S. 497 müsste es wohl ‚Ehren-Doyen‘ statt „Ehrendekan“ heißen, auf S. 694 dürfte „Countess“ irrtümlich stehen geblieben sein.

Siglinde Bolbecher und Konstantin Kaiser mögen meine (kleine) Bemühung um das Thema als Dank für ihre große und nützliche Anstrengung ansehen.

Siglinde Bolbecher,  Konstantin Kaiser Lexikon der österreichischen Exilliteratur
Sachbuch.
Wien, München: Deuticke 2000.
765 S.; geb.
ISBN 3-216-30548-1.

Rezension vom 19.04.2001

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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