#Sachbuch

Lexikon der österreichischen Exilliteratur

Siglinde Bolbecher, Konstantin Kaiser

// Rezension von Kristina Pfoser

699 Eintragungen, 765 Seiten, eineinhalb Kilo – es ist ein wahrhaft gewichtiges Lexikon, das Siglinde Bolbecher und Konstantin Kaiser da vorgelegt haben – eine Bestandsaufnahme der österreichischen Exilliteratur, die zeigt, daß es sich hier nicht um eine Episode in der Literaturgeschichte handelt, sondern um eine Literatur, die in einem bedeutenden Wirkungszusammenhang mit dem Literaturschaffen vor und nach dem Krieg steht.

Die Arbeit ist das Ergebnis jahrzehntelanger Recherchen. 1984 wurde mit der Arbeit begonnen. Geforscht haben Bolbecher/Kaiser – und mit ihnen Evelyn Adunka, Nina Jakl und Ulrike Oedl – nicht nur in unzähligen in- und ausländischen Bibliotheken und Archiven, sie haben auch bei den Autoren, ihren Verwandten oder Rechtsnachfolgern recherchiert. Das Projekt des Exillexikons hat bereits das Abtreten von zwei Verlagen überlebt – angekündigt war es bereits im Verlag für Gesellschaftskritik,später dann bei dessen Nachfolger, dem Döcker-Verlag. Jetzt hat es bei Deuticke eine sichere Heimat gefunden.

55 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges wird jetzt erstmals versucht, die österreichische Exilliteratur in ihrer Gesamtheit darzustellen. Siglinde Bolbecher und Konstantin Kaiser haben ihren Forschungsgegenstand weit gefaßt. Zum einen beschränkt sich das Lexikon – wie es in der Einleitung heißt – nicht auf AutorInnen, die in den Grenzen des heutigen Österreich geboren sind, sondern bezieht auch deutsch- und jiddischsprachige Autoren ein, die in den habsburgischen Kronländern und ihren Nachfolgestaaten (z. B. Anna Kromer, Tuvia Rübner) geboren sind. Zum anderen wird der Begriff ‚Exil‘ sehr extensiv verstanden.
Erfaßt wurden neben den Autoren, die tatsächlich ins Exil gingen und denen, die sich am Widerstand beteiligten oder die aus politischen oder rassischen Gründen verfolgt wurden und denen die Flucht nicht gelang, auch jene Autoren, die sich durch „innere Emigration“ mehr oder weniger widersetzten.

Daß es im konkreten schwer ist, eine Grenzlinie zwischen Anpassung und Widerstand zu ziehen, zeigen manche Beispiele. Z. B. Erika Mitterer: Das am Institut für Germanistik der Universität Graz beheimatete umfangreiche Projekt „Handbuch zur österreichischen Literatur im Nationalsozialismus“ etwa mißt die Nähe zum (bzw. Ferne vom) Nationalsozialismus unter anderem an der Zugehörigkeit zu staatstragenden Organisationen wie der Reichschrifttumskammer, am Einkommen und an Förderungsmaßnahmen, die die NS-Behörden den Autoren angedeihen ließen. Erika Mitterer z.B. hatte noch 1937/38 ein – wie es heißt – „geringfügiges Einkommen“, 1941 konnte sie immerhin schon 24.000.- Reichsmark auf ihrem Konto verbuchen – das waren nur um 6.000.- Reichsmark weniger als ein Gauleiter-Gehalt. Und auch ihr Text „Der Fürst der Welt“, der als indirekte Kritik am Regime gelesen werden kann, war bis zur norwegischen Übersetzung auf den Förderlisten der NS-Behörden.

Mit dabei im Exillexikon ist auch der sozialdemokratisch orientierte Autor Rudolf Brunngraber – wie Erika Mitterer kein Exilant -, dessen Bücher „Opiumkrieg“, „Zucker aus Kuba“ oder „Radium“ in den frühen 40er Jahren im Deutschen Reich beachtliche Auflagen bis über 90.000 Stück erreichten, und der 1944 von Rüstungsminister Albert Speer den Auftrag erhielt, ein Werk über den Nachschub des Deutschen Reiches zu schreiben und für die Recherchen vor Ort dafür zum Sonderführer im Majorsrang ernannt worden war. Siglinde Bolbecher und Konstantin Kaiser verschweigen diese Tatsachen nicht. „In Österreich nach 1945 allgemein als Nazigegner respektiert, erscheint Rudolf Brunngrabers Haltung doch als zutieftst zweideutig und weiterhin klärungsbedürftig“, heißt es denn auch am Ende des Lexikon-Artikels über Brunngraber.

Ob manche die Aufnahme in ein Exillexikon „verdient“ haben oder nicht, bzw. ob der Begriff Exil durch diese ausgedehnte Auslegung verwässert werde – diese Debatte sei zurückgestellt vor der Tatsache des großen Verdienstes, die österreichische Exilliteratur in großem Stil zu erfassen – neben den großen Namen des Exils wie Hermann Broch, Elias Canetti, Erich Fried, Joseph Roth, Hilde Spiel, Franz Werfel oder Stefan Zweig finden sich zahlreiche völlig Vergessene – z.B. Abraham Sonne, dessen Manuskripte im Ersten Weltkrieg verbrannt waren und der – von Canetti in seinem autobiographischen Buch „Das Augenspiel“ beschrieben – zu Lebzeiten nur elf Gedichte veröffentlicht hat, alle in hebräischer Sprache. Darüber hinaus haben Kaiser / Bolbecher auch versucht, Autoren der „Kindergeneration“ zu erfassen, jene die jung emigrierten und erst im Exil, in der Sprache des Gastlandes zu schreiben begannen und bisher zu wenig im Umkreis der „Exilliteratur“ wahrgenommen wurden wie die in New York lebende Kinderbuchautorin und Erzählerin Lore Segal oder der nach Mexiko emigrierte Schauspieler, Autor und Musiker Bruno Schwebel, der zahlreiche Kurzgeschichten auf Spanisch und Englisch schrieb.

Es ist nur ein kleiner Teil von Autoren, die das Schreiben in deutscher Sprache gänzlich aufgegeben haben – aber jenseits aller Sprachgrenzen wird eines deutlich: Die Literatur des Exils ist bis heute nicht verstummt.

Siglinde Bolbecher, Konstantin Kaiser Lexikon der österreichischen Exilliteratur
Sachbuch.
Wien, München: Deuticke 2000.
765 S.; geb.
ISBN 3-216-30548-1.

Rezension vom 19.12.2000

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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