#Sachbuch

Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945

Thomas Kraft (Hg.)

// Rezension von Ulrike Diethardt; Evelyne Polt-Heinzl

Begründet von Hermann Kunisch, fortgeführt von Herbert Wiesner, Sibylle Cramer und Dietz-Rüdiger Moser.

Umfangmäßig ist in etwa gleich geblieben, was 1965 als Herbert Kunischs „Handbuch der deutschen Gegenwartsliteratur“ begann und 1997 als „Lexikon der deutschen Gegenwartsliteratur“ in der Betreuung von Marion Büchl, Susanne Schedl und Dietz-Rüdiger Moser eine Neuauflage erfuhr. Nun legt Thomas Kraft eine von ihm verantwortete Version vor, die überraschenderweise nach nur sechs Jahren 545 der insgesamt 818 Artikel als neue Texte enthält.

Im kurzen Vorwort legt der Herausgeber seine Schwerpunkte fest: Es geht um AutorInnen, die ihren Schaffensschwerpunkt nach 1945 haben, wobei auch jene Autoren des Exils berücksichtigt werden, deren Rezeption aufgrund der historischen wie biografischen Brüche erst nach 1945 einsetzte (Elias und Veza Canetti finden sich ebenso wie Rose Ausländer, Elisabeth Freundlich, Anna Maria Jokl oder auch Elazar Benyoetz). Neu aufgenommen sind in etwas größerem Umfang Kinder- und Jugendubchliteratur, Hörfunktautoren, Essayisten (aber eher halbherzig, Karl-Markus Gauss wird auf 2 Spalten so kurz abgehandelt wie Christine Busta, Clemens Eich oder Hans Eichhorn), Dramatiker (gilt nicht z. B. für Thomas Baum) und Migrantenliteratur.

Bei einem groß angelegten Unterfangen wie diesem ist eine wertende Einschätzung immer schwer und stets in Gefahr ungerecht zu werden. Man hat leicht ein schlechtes Gewissen, Kompetenzen, aber auch Fleiß und die Energie, die hinter einem Lexikonprojekt stehen, mit einigen wenigen Sätzen zu relativieren oder gar zu zerstören. Viele der Entscheidungen sind zudem zweifellos subjektiver Natur, und aus österreichischer Sicht nimmt schon die unbestreitbar große Präsenz der heimischen AutorInnen für das Projekt ein.

Dennoch sind einige Fragen vielleicht doch angebracht, auch um die zweifellos weitergehende Arbeit am Projekt zu Debatten anzuregen. Vielleicht die größten Einwände gleich vorweg: Warum zwischen Franz Dobler und Roza Domascyr Heimito von Doderer fehlt, der 1997 mit 4,5 Spalten durchaus angemessen vertreten war, wird wohl kaum argumentierbar sein. Im Gegensatz dazu gibt es nach wie vor einen Beitrag zu Gregor von Rezzori, der sogar von 2 auf 3 Spalten erhöht wurde. Weggefallen sind auch Leo Perutz – trotz zahlreicher Neuauflagen bis in die heutigen Tage – oder Helmut Qualtinger. Etwas verwunderlich auch, dass hinter Ulrich Horstmann nicht mehr Alois Hotschnig zu finden ist, und vor Gerhard Falkner noch immer nicht Gunter Falk.

Andere Entscheidungen sind vielleicht eher Ermessensfragen: Warum Oswald Egger aber nicht Helene Flöss? Warum Helga Glantschnig aber nicht Walter Klier? Warum Wolfgang Hermann aber nicht Monika Helfer, sehr wohl aber Joachim Helfer? Warum Bernhard Hüttenegger oder Thomas Glavinic aber nicht Stefanie Holzer? Warum Arno Geiger aber eben nicht mehr Alois Hotschnig? Warum Milo Dor aber nicht Reinhard Federmann, der auch schon 1997 fehlte? Warum Helmut Eisenreich aber nicht Jeannie Ebner, die in der Ausgabe 1997 noch vorkam? Weggefallen sind auch Andrea Wolfmayr oder Helmut Zenker, neu zu begrüßen dafür Marie-Thérèse Kerschbaumer, Ruth Klüger, Reinhard Priessnitz oder Margit Schreiner.

Zur Diskussion steht natürlich immer auch die mit der zugebilligten Textlänge implizierte Wertung. Günter Brus erhält 5, Konrad Bayer hingegen nur 3 Spalten, Oswald Wiener nur mehr 2,5; Gertrud Fussenegger oder die Schweizerin Margit Baur, die Brus im Alphabet vorangeht, sind mit 3,5 Spalten vertreten; Max Blaeulich erhält 3, Lilian Faschiner nur 2, Margit Schreiner gar nur etwas über 1; Ivan Ivanij 4, Franz Innerhofer und Marlen Haushofer jeweils nur 2, während sie 1997 noch mit drei Spalten vertreten waren; Franzobel 4, aber Antonio Fian nur 1,5 Spalten. Mit 4 Spalten müssen sich auch Josef Winkler und Marlene Streeruwitz begnügen.

Favoriten unter dem Österreich-Aspekt sind Peter Handke (11 Spalten), gefolgt von Elfriede Jelinek (8) – die, auch das zeigt das Lexikon, von nun an dazu verurteilt sein wird, dem Namen Zoe Jenny voranzugehen – Paul Celan (7,5), Ingeborg Bachmann und Friederike Mayröcker (6,5), Thomas Bernhard und Ernst Jandl (je 6) und Gerhard Rühm mit erstaunlicherweise 8. Von der Aufmerksamkeitslogik dann mit je 5 Spalten nur mehr weniger als halb so bedeutend wie Handke: Ilse Aichinger, H. C. Artmann, Elias Canetti und Gerhard Roth. I

nsgesamt entsteht ein wenig der Eindruck, dass die Auswahl, vor allem im Bereich der jüngeren AutorInnen, eher einer Lenkung durch die Mediendebatten des letzten Jahrzehnts (oder sogar weniger) folgte, denn einer Revision und Neusichtung der literarischen Produktion der letzten Jahrzehnte. Der neu aufgenommene Raoul Schrott beispielsweise („eine Ausnahmeerscheinung“ in der Literatur der Neunzigerjahre, S. 1147) erscheint mit 7,5 Spalten weitaus gewichtiger als Bernhard, Bachmann oder Jandl. Und auch Michael Köhlmeier erhält stolze 6 Spalten. Dass Wof Haas aufgenommen ist, während KrimiautorInnen sonst generell ignoriert werden, ist vielleicht noch aus der besonderen Rezeption, die die sprachliche Innovation in den Vordergrund stellte, verständlich. Die Orientierung am medialen Echo erklärt vielleicht auch die Präsenz von Judith Hermann (1,5) oder Klaus Peter Händler, der mit 3,5 Spalten mehr Platz einnimmt als Fritz Hochwälder (3) oder Veza Canetti (2,5).

Wer mit Namen wie Jürg Acklin, Katrin Arkan, Cyrus Atabay, Johannes Ulrich, Annette Gröschner, Lioba Happel, Norbert Hummelt oder Johann Lippet nichts anzufangen weiß, kann im vorliegenden Lexikon seine Bildungslücken schließen.

Was die Qualität der einzelnen Lexikonartikel ausmacht, sind natürlich Unterschiede evident. Neu ist, dass die Beiträge gezeichnet sind, wobei die „verschiedenen Temperamente und Stile der Verfasser“ (S. 8) keiner lexikalischen Normierung zum Opfer fielen. Zweifellos sind viele der Beiträge von idealen Fachleuten für den jeweiligen Autor verfasst. Möglicherweise hätte eine etwas stärkere Diversivizierung dem Lexikon gut getan, Thomas Kraft und Petra Ernst scheinen sich eine zu große Bandbreite vorgenommen zu haben.

Sehr bedauerlich auch, daß zum Unterschied von 1997 auf ausgewählte Hinweise zu Sekundärliteratur diesmal gänzlich verzichtet wird. Diese ersten Findetipps machen doch einen guten Teil des Gebrauchswertes eines Lexikons zur Gegenwartsliteratur aus. Dass im Anhang – wie schon 1997 – ein alphabetisches Verzeichnis der behandelten AutorInnen angefügt ist, wirkt hingegen für ein lexikalisches Werk einigermaßen unüblich und zeigt die Verführung zu Fleißaufgaben, wenn die EDV-mäßige Verarbeitung es per Knopfdruck möglich macht.

Thomas Kraft (Hg.) Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945
Vollständig überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe.
München: Nymphenburger, 2003.
1402 S.; geb.; m. Abb.
ISBN 3-485-00989-X.

Rezension vom 12.11.2003

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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