#Roman

Leutnant Pepi zieht in den Krieg

Walter Klier

// Rezension von Gerald Lind

Walter Kliers Leutnant Pepi zieht in den Krieg ist ein beeindruckendes, gewichtiges Buch, nicht nur des Umfangs wegen. Eine solche Darstellung der letzten Jahre der Habsburgermonarchie und des Ersten Weltkrieges hat man noch nicht oft gelesen.

In gewisser Weise kann dieses Buch als Komplement zu Karl Kraus‘ „Die letzten Tage der Menschheit“ verstanden werden. Wie Kraus arbeitet Klier mit dokumentarischem Material, nur während Kraus den Weltkrieg aus der panoptischen Perspektive des vom Zentrum aus agierenden kritischen Satirikers in den Blick nimmt, dominiert bei Klier die regional verankerte und großteils patriotische Sicht des einzelnen Soldaten. Bei diesem Soldaten handelt es sich um den titelgebenden Leutnant Dr. Josef Prochaska, genannt Pepi, Großvater des Autors und Sohn eines Innsbrucker Forstrates. Klier hat die Tagebucheinträge, Feldpostbriefe und Fotografien seines Großvaters zu einem chronologisch aufgebauten Buch verarbeitet. In seiner Vorbemerkung gibt der Autor an, dass er einen Roman über seine Familiengeschichte schreiben wollte, bei der Lektüre der von seinem Urgroßvater, seinem Großvater, dessen Bruder Heinrich („Heintschi“) und Cousin Rudolf nachgelassenen Materialien aber eine andere Entdeckung machte: Ihm „wurde klar, daß ich hier einen Roman gefunden hatte, der eigentlich schon fertig war und der Arbeit eines Herausgebers harrte.“ (S. 7) Trotzdem hätte auf die Genrebezeichnung Roman verzichtet werden können, denn nicht ästhetische Fiktionalisierung, sondern die (natürlich) subjektive Welterfahrung eines realen Individuums macht die Qualität des Textes aus.

Klier hat für sein Buch eine aus vier Teilen bestehende Struktur gewählt. Der erste Teil, „Familiensachen“, beschreibt die Zeit von 1897 bis zum Ersten Weltkrieg und verwendet vor allem Tagebucheinträge der Brüder Prochaska. Der zweite Teil, „Leutnant Pepi zieht in den Krieg“, stützt sich in erster Linie auf das Tagebuch der Jahre 1914 und 1915 von Josef Prochaska sowie auf dessen Feldpostbriefe. Aus der Doppelperspektive des ersten Teiles wird aufgrund des frühen Todes von „Heintschi“ eine einfache. Der dritte Teil, „Nachlässe, Nachsätze“, dokumentiert Aspekte der Recherche und geht dem Lebensweg einiger Personen nach. Der letzte Teil besteht aus Fotografien, ergänzt den Text um eine (inter)mediale Perspektive, kann aber auch als eigenständiges Bildnarrativ gelesen werden.

Interessant am ersten Teil von „Leutnant Pepi zieht in den Krieg“ ist hauptsächlich die – für den mit Schnitzler, Kraus, Hofmannsthal und anderen vertrauten Leser – ungewohnte Perspektive auf das Fin de siècle. Klier geht davon aus, dass die Prochaska-Brüder repräsentativer für diese Epoche sind als die Décadents, er sieht sie als Vorläufer „für den Hedonismus der nächsten Nachkriegszeit“ und vermutet, „dass Pepi und seine Freunde in Wahrheit die Vorreiter der modernen Zeiten waren, während die unbestimmt und doch individuell schmerzlich leidenden Untergangsleute tatsächlich das Ende des Alten, der Alten Welt ausdrückten.“ (S. 37) Im Zentrum der Vorkriegserzählungen steht der Akademische Alpine Verein Innsbruck (AAVI), der den sportbegeisterten Prochaskas eine auch ideologische Heimat bot. Klier schreibt über dieses Milieu: „Man war akademisch, katholisch und, immer im Rahmen der Kaisertreue, auch deutschnational.“ (S. 38) Politische Aussagen finden sich in den Aufzeichnungen der Brüder aber kaum, vielmehr wird über Bergerlebnisse und gesellschaftliche Ereignisse berichtet. Auch Reflexionen über die eigene Lebenssituation überschreiten nie den sozialen Bezugsrahmen. So heißt es im Tagebuch von Heinrich zum frühen Tod der Mutter: „So war uns unser Teuerstes entrissen und es hieß halt weiter fest auf Gott vertrauen und gegenseitig zusammenhalten.“ (S. 69–70) Es ist eine bemerkenswerte Einstellung zum Leben, die uns hier entgegen tritt. Wichtig ist vor allem diszipliniertes Studium, sportliche und soziale Aktivität, beinahe pflichtbewusstes Interesse an Theater und Musikaufführungen sowie gesellschaftliche Anerkennung. Selbstzweifel oder Infragestellungen von Normen sind in dieser Lebens- und Denkweise nicht vorgesehen. Als exemplarisch kann Pepis Nicht-Reaktion auf die Ermordung eines katholischen Studenten durch deutschfreiheitliche Burschenschafter im Jahre 1912 stehen. Klier ist über die fehlende Erwähnung der „Angelegenheit, die damals Innsbruck in Atem hielt“ (S. 74), in den Tagebüchern der Prochaska-Brüder so verwundert, dass er eine Reihe von Zeitungsmeldungen, quasi als „Kompensation“, in den Text einfügt, anstatt der Frage nachzugehen, warum keine Auseinandersetzung mit damals aktuellen Konflikten und Konfliktpotentialen auffindbar ist.

Der umfangreichste und beeindruckendste Teil des Buches enthält die Kriegsschilderungen des Leutnants Prochaska. In ihrer Gesamtheit machen sie den Ersten Weltkrieg in seiner Entwicklung nachvollziehbar. Es wird deutlich, wie sich der Krieg immer tiefer in die Psyche des einzelnen Soldaten einsenkt, wie aus der anfänglichen Euphorie Hoffnung und schließlich Frustration und Defätismus wird. In der ersten Postkarte, vom 2. August 1914, wie alle weiteren adressiert an den Vater, heißt es noch: „Im übrigen eine kolossale Gaudi. […] Die Leute hatten solche Begeisterung, daß sie uns die Hände küßten. Unsere Armee hat guten Geist. Heute ein Prachttag. So etwas wie die Sauferei heute Nacht habe ich nicht leicht mitgemacht. […] Mir geht es ausgezeichnet. Bis jetzt ist der Krieg ganz lustig. Dein Sohn Pepi“ (S. 126). Drei Kriegsjahre später, am 28. Oktober 1917, stellt Prochaska dann mit Blick auf den schon im September 1914 verstorbenen Bruder fest: „Heute ist Heintschis Geburtstag, dachte einigemale an ihn. Er hats am besten getroffen.“ (S. 486) Und im Mai 1918 hat Prochaska schließlich jede Perspektive verloren: „Ich fühle mich seelisch und körperlich sehr elend. Das kann nicht mehr lang so fort gehen.“ (S. 515) Zwischen diesen Extremen findet sich eine Alltagsbeschreibung des Krieges aus der Sicht eines relativ niedrigen, aber ehrgeizigen Offiziers, die in ihrer Plastizität kaum eindringlicher sein könnte. Natürlich finden sich Einsprengsel der Kriegspropaganda, zum Beispiel in dem Briefnachsatz „Nieder mit Italien“ (S. 271) oder der Rede von „[g]roße[n], schwere[n] Zeiten“ (S. 310), die bevorstünden, aber die Wahrnehmung und Darstellung des Krieges ist, so paradox das klingen mag, im Wesentlichen eine fast private. Prochaska urteilt aus seiner persönlichen Situation, schließt aus seinen eigenen Beobachtungen und wagt vor allem in den Tagebüchern, die nicht wie die Feldpost der Zensur ausgesetzt waren, schon früh Kritik an den Verhältnissen. So zum Beispiel in einem Eintrag vom 23. März 1915, in dem er „Zeichen echt österreichischer Mißwirtschaft und Schlamperei, echter Protektions- und aristokratischer Sauwirtschaft [feststellt]. Es besteht wenig Hoffnung, daß es in Österreich einmal besser werden wird. Es stinkt von oben angefangen bis unten.“ (S. 234)

Besonders betroffen machen die über den gesamten Text verstreuten Beschreibungen von Leichenfeldern und verstümmelten Körpern. Prochaska erkennt im Laufe des Krieges, dass „[j]eder Schritt vorwärts mit Blut erkauft“ (S. 328) ist. Es verwundert kaum, dass der anfängliche Patriot über eine Verletzung, die ihn in sichere Distanz zur Front bringt, erfreut ist. (Vgl. S. 370) Parallel zum Kriegsnarrativ, im Zuge dessen Prochaska von der russischen an die italienische Front gelangt, gibt es übrigens auch noch eine Liebesgeschichte, und zwar mit der Deutschen Anna Zeeb. Doch die Liebe der beiden nimmt einen ähnlichen Verlauf wie der Krieg, der autoritäre Vater Prochaskas unterbindet eine interkonfessionelle Ehe (Zeeb ist evangelisch), der vom Krieg völlig zermürbte und gegen Ende in seinen Briefen immer gereizter wirkende Pepi fügt sich.

Am wenigsten gelungen ist der dritte, dokumentarisch-biografische Teil des Buches. Hier wird einer Privatfehde mit dem Militärhistoriker Heinz von Lichem breiter Raum gegeben, dagegen nichts über den weiteren Lebensweg von Josef Prochaska mitgeteilt. Außerdem erscheint die im Kontext der Auseinandersetzung mit von Lichem durchschimmernde Perspektive des Autors auf „die gute alte Freiheitskämpferzeit“ (S. 548) fragwürdig, schließlich setzte der hier gemeinte Befreiungsausschuss Südtirol (BAS) für sein Ziel einer Wiedervereinigung Tirols in den 1950er und 1960er Jahren terroristische Mittel ein.

Leutnant Pepi zieht in den Krieg ist ein historisch äußerst aufschlussreiches, faszinierendes Dokument. Walter Klier hat bei der Aufarbeitung seines Familienarchivs einen Schatz gehoben und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dass er das vorgelegte Material als Roman kennzeichnet, schmälert nicht sein Verdienst, irritiert aber die Lesererwartung. Auch die Ergänzungen durch Zeitungsmeldungen und Ähnliches sind wenig zielführend und können (und sollen wohl auch) eine geschichtswissenschaftliche Kontextualisierung nicht ersetzen. Dennoch hinterlässt dieses Buch einen bleibenden Eindruck.
Dies mag vor allem damit zusammenhängen, dass der ‚große‘ Krieg aus der Perspektive des Leutnant Pepi plötzlich so ‚klein‘ erscheint – und zwar klein im Sinne von alltäglich und banal. Wenn Pepi von krampfartigen Durchfällen im Kugelhagel schreibt, so unterminiert er damit ungewollt jegliches Heldenpathos. Und so gesehen passt auch die Form des Buches zu seinem Inhalt. Der Krieg ist keine große, teleologische Erzählung, sondern die Freude über von der Verlobten erhaltene Mehlspeisen, eine an die Familie geschickte Lebensmittelliste, die Frage, ob der Vater nicht einige Reclambücher an die Front schicken könne, der Ärger über Bettelbriefe von Verwandten oder die Genugtuung, wenn man wegen einer Auszeichnung im Tiroler Anzeiger erwähnt wird. In Leutnant Pepi zieht in den Krieg zerfällt der Krieg in seine tatsächlichen Bestandteile. Das nimmt ihm nichts von seinem zerstörerischen Grauen, aber alles von seiner angeblichen Größe.

Walter Klier Leutnant Pepi zieht in den Krieg
Roman.
Hohenems: Limbus, 2008.
616 S.; geb.
ISBN 978-3-902534-16-3.

Rezension vom 19.06.2008

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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