#Prosa

Lesen ist Leben

Cornelius Hell

// Rezension von Julia Danielczyk

Gedanken für den Tag.

Cornelius Hells „Gedanken für den Tag“ liegen nun als Miniaturen zum (Nach)Lesen vor. Der Literaturkritiker und Essayist, Feuilletonchef der Furche sowie Quart-Redaktionsmitglied hat im Wieser-Verlag den Band „Lesen ist Leben“ veröffentlicht. Hells Leben definiert sich stark über die Literatur, die 28 kurzen Beiträge – alle (außer den Texten über Hannah Arendt, Ingeborg Bachmann und Christine Busta) wurden in Ö1 gesendet – geben nicht nur sehr persönliche Einblicke in Hells Lektüre, sondern listen auch Autorinnen und Autoren auf, die für den Literaturwissenschaftler von Bedeutung sind.

Bei seiner Auswahl hat man den Eindruck, dass es Hell mit Hannah Arendt, die er auch zitiert, hält: „Ich will verstehen. Und wenn andere Menschen verstehen – im selben Sinn, wie ich verstanden habe -, dann gibt mir das eine Befriedigung wie ein Heimatgefühl.“ Dass Cornelius Hell in der Literatur sein Zuhause gefunden hat, zeigt die Sicherheit, mit der er sich durch die Welt der Schreibenden und Denkenden bewegt, und eines ist am Ende des Buches ebenso sicher: Er ist ein Teil von ihnen, als Leser, der seine Wünsche und seine Suche nach Selbsterkenntnis wach hält, aber auch als Schreibender, der Geschichten zu den Geschichten erfindet, Metaphern über das Lesen erschafft.

Das Wunderbare am vorliegenden Buch ist, dass Cornelius Hell wagemutig sein ganz persönliches Denken und Verstehen einbringt und Ambivalenzen in der Rezeption aufzeigt. Er trennt nicht das Werk vom Autor, sondern setzt beide in eine logische Verbindung. Hell erzählt auf spannende Weise den historisch-politischen Kontext mit und er stellt den Menschen vor, der hinter den – mehr oder weniger – bekannten Texten steht.

In seinen in jeweils sechs Teile strukturierten Beiträgen zeichnet er biographische Skizzen, in denen er ganz unakademisch die Autoren vorstellt. Bei allen sehr persönlichen Einblicken wahrt Hell jedoch die notwendige Distanz und den Respekt vor dem Menschen, wie etwa bei Gottfried Benn, den er als „gnadenlosen Diagnostiker“ der Gesellschaft beschreibt, über dessen verbissenes Einsamkeitsplädoyer er jedoch sagt: „Mir ist das nicht immer sympathisch.“ Das Besondere an dem Band ist auch, dass Hell den Mut besitzt, sich zu positionieren, allerdings – Nota bene ! – niemals urteilend.

So ist für ihn Bertolt Brecht „eine der unsympathischsten Figuren der Literaturgeschichte“, der allerdings „seine Texte nicht allein im abgeschlossenen Arbeitszimmer geschrieben hat, sondern mit Mitarbeitern und vor allem Mitarbeiterinnen, die er meist auch genannt hat.“ Brechts Demokratisierung des Schreibens hinterfragt Hell polemisch in Bezug auf heutige Arbeitsverhältnisse: „Wenn man die Namen der Primarärzte auf schönen Türschildern oder der Architekten auf den Baustellen sieht oder hört, wie Geschäftsführer stolz ihre Erfolge verkünden, während Krankenpflegerinnen oder Bauarbeiter so namenlos bleiben wie alle, die man euphemistisch Mitarbeiter nennt, dann lohnt es sich zu fragen, wie Brechts lesender Arbeiter: Haben Sie das allein gemacht?“

Zahlreiche Textzitate – klug gesetzt und verknappt – illustrieren Werk und Biographie. Was Demokratie und Brüderlichkeit in Bezug auf die Kirche bedeutet, schildert Hell anhand seiner Skizze zu Heinrich Böll, der er den Titel „Brot und Wein, Liebe und Brüderlichkeit“ gibt. Er schildert Bölls Katholizismus, seinen politischen Widerstandsgeist sowie dessen jahrelange Auseinandersetzung mit der Kirche und die Versuche der Neu-Definition religiöser Symbole. Cornelius Hell fasst Bölls Sicht auch auf die katholische Religion treffend zusammen: „Durch sein Werk zieht sich die Spur eines alternativen, rebellischen und republikanischen und gleichzeitig mystisch-sakramentalen Christentums.“ Brüderlichkeit und Details, nicht Formeln, erkennt Hell im Werk Heinrich Bölls und präsentiert damit auch seinen eigenen detailgenauen Blick.

Abschließend sei noch auf einen besonderen Text hingewiesen, er zieht sich wie ein Motto durch den Band. Für seine Skizze zu Albert Camus fand Hell den Titel „Das Leben bejahen bis in seine Leiden hinein.“
Ohne die Dimension des „sacré“, des Besonderen, ohne welches das Leben banal und beliebig wäre, gäbe es keine Auseinandersetzung, keine Nächstenliebe, keine Anerkennung des Leidens, also keine Literatur. Hell schreibt über den Nobelpreisträger Camus: „Jeder, der einer Partei, einer Weltanschauungsgemeinschaft, aber auch einer Kirche angehört und aufrichtig bleiben will, kann von Camus lernen.“

Literatur und Aufrichtigkeit, Brüderlichkeit und Religion durchziehen das Werk der beschriebenen Autorinnen und Autoren, unter denen sich die Österreicher Ingeborg Bachmann, Christine Busta, Thomas Bernhard, Ödön von Horváth, Paul Celan und Nikolaus Lenau finden. Die vielen unterschiedlichen, teils heiter-ironischen, teils tiefschürfenden Blicke, die Hell auf den wenigen Seiten seiner Literatur-Miniaturen bietet, zeigen, dass er selbst auch zu ihnen zählt: ein feinfühlig Denkender, ein exquisit Schreibender.

Cornelius Hell Lesen ist Leben
Miniaturen.
Klagenfurt, Wien, Ljubljana, Sarajevo: Wieser, 2007.
288 S.; brosch.
ISBN 978-3-85129-569-2.

Rezension vom 04.06.2007

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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