Es sei voraus geschickt, dass der postulierte Brückenschlag zwischen der narratologischen Deskription des jeweiligen Romans und der ‚Interpretation‘ nicht in allen Fällen gleich gut gelingt und – was schwerer wiegt – dieser methodische Ansatz trotz aller Verfeinerung der Analyse den gleichen Mangel hat wie die selige ‚textimmanente Interpretation‘, das Absehen von den gesellschaftlichen Bedingungen der Werke. Perutz lebte aber im Österreich der 20er und 30er Jahre, seine Bücher nehmen Bezug auf dieses Umfeld.
Sieht man von dieser bewussten Selbstbegrenzung (vgl. S. 96) ab, bietet der Band sehr viel: eine Fülle von Beobachtungen, die die Machart der Perutz’schen Romane, etwa die raffinierte Wahl der jeweiligen Erzählerposition, deutlich erkennen lassen und auf die auch ein stärker historisch ausgerichtetes Bemühen um ihr Verständnis nicht wird verzichten wollen. In einigen Fällen werden unveröffentlichte Vorstufen des Texts einbezogen (z. B. S. 65f. zum Meister des Jüngsten Tages). Sehr interessant auch das computergestützte Herangehen an Nachts unter der steinernen Brücke.
Es ist wenig sinnvoll jeden Beitrag einzeln vorzustellen. Einige Bemerkungen mögen genügen: Der Beitrag über den Marques de Bolibar etwa dürfte den durch den fiktiven Herausgeber betonten Nassau-Bezug überschätzen; manchmal, etwa beim Meister des Jüngsten Tages, scheint mir die Grenze zur Überinterpretation überschritten; der Verfasser der Analyse von Zwischen neun und neun macht es aus der Strenge seiner Systematik heraus vielleicht sich und uns allzu schwer, wenn er die Frage stellt, welche „Textinstanz“ es einer Figur gestatte Bemerkungen zu machen, die als Vorausdeutungen gelesen werden können (S. 26, Anm. 6). Die Bemerkungen äußert zunächst die Figur; zu Vorausdeutungen macht sie der Leser (bei der Zweitlektüre). Das dahinter stehende Wortspiel (die Remotivierung von Fraseologismen durch die besondere Situation Dembas) ist letztlich eines des Autors, also einer Instanz außerhalb des Texts.
Das Prinzip, „dass die Interpretation eines literarischen Werks auf der differenzierten Rekonstruktion seines Aufbaus und seiner Machart aufruhen sollte“ (S. 8), ist immer auch meines gewesen; dieser Band lässt mich zum ersten Mal befürchten, dass solche Rekonstruktion Gefahr laufen kann zu differenziert zu werden, mindestens bei längeren Texten. Diese Bemerkung schließt sehr viel Anerkennung für die genaue Lektüre der Texte des „Erzählkünstlers“ (S. 36) Perutz ein!
Sowohl die Einzelbeobachtungen als auch gelungene Prägungen fruchtbarer neuer Begriffe (etwa ‚Kohärenzvermutung‘, S. 124) sichern diesem insgesamt vorzüglichen Buch einen wichtigen Platz in der Perutz-Forschung und beweisen den Nutzen der Narratologie für das Verstehen von Texten. Der Abstempelung des „Erzählkünstlers“ Perutz als eines Autors der ‚phantastischen Literatur‘ sollte der bemerkenswerte Band endgültig den Garaus machen.
Die bisher unbekannte frühe Novelle „Von den traurigen Abenteuern des Herrn Guidotto“ (1909) zeigt Perutz‘ konventionelle Anfänge; für sich kann sie wenig Interesse beanspruchen. Die umfangreiche Bibliografie von Michael Mandelartz ist selbstverständlich hochwillkommen. Ärgerlich ist – man verzeihe die Detailkrämerei – , dass in einem Buch von diesem Niveau (und aus diesem Verlag) statt ‚in mediis rebus‘ „in medias res“ (S. 82) stehen bleibt. Leo Perutz wäre ein solcher Fehler nicht passiert.