#Roman

Lento Violento

Maria Muhar

// Rezension von Eva Maria Stöckler

Am 30. Mai 2019 fand wie jeden Donnerstag seit Antritt der türkis-blauen Bundesregierung eine Demonstration am Ballhausplatz in Wien, dem Sitz des Bundeskanzleramtes, statt. Anders als die Wochen zuvor demonstrierten diesmal laut Veranstalter etwa 20.000 Menschen gegen die Bundesregierung, die zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr im Amt war. Als zentraler Musik Act traten die in den 90er Jahren bekannten „Vengaboys“ auf, eine niederländische Eurodance Band, die mit „We’re going to Ibiza“ einen veritablen Hit landeten, der nun aus aktuellem Anlass zu neuer Bekanntheit gelangte. Das sogenannte „Ibiza-Video“ löste zunächst den Rücktritt des Vizekanzlers und schließlich die Amtsenthebung der gesamten Regierung aus. Mit den „Vengaboys“ und ihrem Hit stand plötzlich wieder eine Musikrichtung in der Öffentlichkeit, die in den 90er Jahren die Clubszene dominierte, jedoch später an Bedeutung verlor. Dieses Ereignis nimmt Maria Muhar zum Anlass, einen Blick auf Eurodance und seine Subgenres, auf das Lebensgefühl der 90er Jahre und auf jenes 30 Jahre danach zu werfen, dargestellt an und durchlebt von Ruth, Alex und Daniel.

Ruth, alkohol- und drogenabhängig, ist Sozialhilfeempfängerin – „cineastische Sozialhilfeempfängerin“, wie sie betont, während sie „Teenager werden Mütter“ schaut -, sie fährt Skateboard und ist Mitbewohnerin von Alex. „Frau Perner“, so wird Alex von ihrer Therapeutin genannt, versucht sich als erfolglose Schriftstellerin an einem Roman über die 90er Jahre und den Soundtrack des Jahrzehnts – Techno – und versinkt dabei nicht nur in ihren Recherchen, sondern auch im Mist und Müll, der sich inzwischen in ihrer Wohnung angehäuft hat. Zu den beiden gesellt sich Daniel, Künstler, arbeitslos, psychisch krank und wohnungssuchend, der in Alex’ Wohnung Unterschlupf findet. Zu dritt streifen sie durch die Wiener Clubszene, unternehmen einen Ausflug aufs Land und verbringen Silvester in den Bergen. Das gemeinsame Wohnen wird mit der Zeit jedoch immer schwieriger, immer schlechter kommen die drei miteinander zurecht: Ruth geht kaum mehr aus der Wohnung, um ihren endlich in Angriff genommenen Entzug nicht zu gefährden, Alex häuft mehr und mehr in der Wohnung an, Hausrat, Bücher, Flohmarktware, Müll. Es ist kaum mehr ein Durchkommen durch die Gänge und Zimmer. Daniels Erkrankung wird schwerer, er hat Erinnerungslücken, bricht immer wieder zusammen, kann sich mitunter kaum bewegen.

Diese drei finden sich in ihrer Hilflosigkeit, ihrer Sucht, ihrer Ziellosigkeit, ihrem Dahintreiben in einem Leben, dessen Sinn sie nicht mehr erkennen können. Sie erleben die immer gleichen Szenen, im Club, in der Wohnung. Sie leben in einer traumhaften Selbstverlorenheit, immer in der Sorge, sich nicht mehr zu spüren, den Bezug zum Ich zu verlieren. Das „Ich“, das nicht mehr Herr im eigenen Haus ist, so Freuds Theorie des Unbewussten, wird dabei in einem Song von Wamdue Project thematisiert, der 1999 zu einem Clubhit wurde: „King of my Castle“. Nicht nur der Songtext wird in Muhars Text zitiert, sondern auch der entsprechende Eintrag zum Song aus Wikipedia abgedruckt. Und das ist auch die formale Strategie des Romans.

Der Text ist in 15 nummerierte Kapitel eingeteilt, ein Kapitel 0 vorangestellt, das sich als Traum von Alex herausstellt und die Motive des Romans anklingen lässt, die Stimmungen, die Ängste und das Schreiben an „Lento Violento“ selbst thematisiert: „Wir stehen am Beginn einer spannenden Reise.“ Man müsse „… sich aus dem Korsett einer konventionellen Erzählweise“ herausschälen, die „den Blick auf die wahrhaften Geschichten schon viel zu oft verstellt hat“, nichts sei hier festgelegt, auch der Fortgang der Geschichte ist offen. „Wer kann mir sagen, wie das hier weitergehen kann?“ „Niemand?“

Entsprechend der zunehmenden Dissoziation der Protagonisten, allen voran Alex, bricht die Kapitelzählung einmal auf: Kapitel 6 wird ausgelassen, auf Kapitel 5 folgt 7, jedoch folgt auf Kapitel 7 eines ohne Zählung (dem als einzigem neben dem 0. Kapitel kein einleitender Liedtext vorangestellt ist), bevor es mit der gewöhnlichen Zählung weitergeht. Kapitel 12 besteht aus vier leeren Tagebucheintragungen von Alex, die nur das Datum tragen –  6.1.2019, 2.2.2019, 12.3.2019 und 1.4.2019 – und den Worten: (Haha).

Die einleitenden Textzitate stammen von verschiedenen Technotracks der 90er Jahre. Dazu gehören etwa Scooter, La Bouce, Gigi D’Agostino, U96, Wamdue Project, Blümchen, Dune, Vengaboys, Marusha, Alice Deejay, Magic Affair und andere. Diese Songzitate grundieren die Stimmung, die Atmosphäre, beleuchten die Handlung, die Figuren, sie schaffen den Rahmen für den Text, in dem Alex, Ruth und Daniel immer mehr ihre Kindheit und frühe Jugend verklären, Eurodance und ihr Lebensgefühl von damals wieder auferstehen lassen möchten. Mit der Gegenwart nicht zurechtkommend, suchen sie sich Zuflucht in der Vergangenheit, Zuflucht in ihrer Kindheit, in der das Leben leicht war und die Musik gedröhnt hat, und Zuflucht in Drogen, Medikamenten, Alkohol. Dieser Eskapismus zeigt sich in verschiedenen Szenen: Alex flieht in die Bibliothek, um in Ruhe arbeiten zu können. Diese Flucht misslingt, jeder kleinste Laut auch im abgelegensten Leseraum bringt Alex zur Verzweiflung. Daniel flieht in die Krankheit, die immer mehr Besitz von ihm ergreift. Seine verzweifelten und doch nur halbherzigen Versuche, eine Anstellung zu finden, misslingen. Und für Ruth sind ihre Skateboards nur mehr ein Schatten ihrer Vergangenheit. Folgerichtig fährt sie nicht mehr, sondern hängt sie sich in ihrem Zimmer sorgfältig als Mosaik angeordnet an die Wand.

Muhar baut ihren Text sehr vielschichtig auf und greift durch die Collage verschiedener Textsorten motivisch weit aus. Bereits in der einleitenden Szene lässt sie die Leser*innen an einer Angstvision von Alex teilhaben, die zum Motto des Romans wird: „Kein Netz – nur ein zusammengeflicktes Segel. Zusammengeflickt aus den Ideen, die diese Geschichte zu … Wasser lassen.“ Dieses „Segel“ besteht aus Ich-Erzählungen von Alex, ihren Tagebucheintragungen, auktorialen Erzählpassagen, Songzitaten verschiedener Techno Tracks, Zitaten aus verschiedenen Textquellen, Wikipedia, Zeitschriften, Büchern, Webseiten, Videos, die auch alle im Quellenverzeichnis angegeben sind. Diese verschiedenen Textsorten sind sogfältig aneinandergereiht, wie das Mosaik, das sich Ruth mit ihren Skateboards an die Zimmerwand gehängt hat, das sich, auch wenn die Steinchen unterschiedliche Farben und Formen haben, doch passend zusammenfügt.

Ein grundlegendes Strukturelement von Techno wird auch als Bauprinzip für diesen Text verwendet: das beständige Wiederholen der Beats. So tauchen Textbausteine des Romans an unterschiedlichen Stellen mitunter wortgetreu wieder auf, jedoch anders grundiert, anders beleuchtet, anders eingefärbt:

„Daniel betritt das Zimmer, das einmal seines war und nun zu einem öffentlichen Bücherschrank umgewidmet worden ist. Seine Mutter hat alle Wände mit Regalen zu- geschraubt, sie sind so tief, dass in der Mitte des Raumes nur etwa ein halber Quadratmeter zum Stehen übrig ist. Wenn Daniel in sein ehemaliges Zimmer gehen möchte, kommt er nicht mehr weit – sobald er es betritt, wird er von allen Seiten von Büchern umzingelt.“ (S. 15)
„Ich betrete das Zimmer, das einmal meines war und nun zu einem öffentlichen Bücherschrank umgewidmet worden ist. Alex hat alle Wände mit Regalen zugeschraubt, sie sind so tief, dass in der Mitte des Raumes nur etwa ein halber Quadratmeter zum Stehen übrig ist. Wenn ich in mein ehemaliges Zimmer gehen möchte, komme ich nicht mehr weit – sobald ich es betrete, werde ich von allen Seiten von Büchern umzingelt.“ (S. 189)
Die Therapiesitzungen von Alex beginnen mit dem immer gleichen „Hm, Frau Perner?“, die Gespräche sind bis auf einzelne Worte ident. Dieses Rhythmisieren von Textpassagen wird auch auf die Ebene des einzelnen Wortes heruntergebrochen: Kochschokolade, die Kappe, ein Socken. All diese Objekte werden in den Text eingeflochten, kehren wieder, kehren an mitunter überraschenden Stellen des Textes wieder und erzeugen eine große motivische Dichte, die auch Bezüge zur Literatur herstellt, hier konsequenter Weise zu Rilkes „Dinggedichten“.

Während Ruth  sich in ihrem Zimmer einschließt, um ungestört ihre Yogaübungen nach einem Video zu machen, taucht das Gedicht Der Panther von Rainer Maria Rilke in ihrer Erinnerung auf. Wie das Tier im Jardin des Plants, Paris, fühlt Ruth sich eingeschlossen hinter tausend Stäben, sie,  der „Partylöwe“, die Angst vor einem Rückfall hat, wenn sie das Zimmer, die Wohnung verlässt:  … als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt.

Muhar ist eine genaue Beobachterin, der es gelingt, etwa das Umknicken einer Seite eines Hochglanzmagazins in einer Detailgenauigkeit zu schildern, dass man meint, dieses Umknicken in Zeitlupe betrachten zu können. Im Beobachten hält sie die Zeit an, um noch genauer hinsehen zu können, die klaren, mitunter harten Konturen noch deutlicher hervorzuheben, lento, violento. „Für das Magazin, dessen glatter Rücken sich bisher schön flächig auf die Tischplatte legen konnte, muss sich das jetzt wie ein Stein im Schuh anfühlen.“ (S. 34)

Den Roman zu lesen und die Songs zu hören (was unbedingt empfohlen wird!) bedeutet, einen Streifzug durch das Lebensgefühl der 90er Jahre zu unternehmen, einer Zeit, in der nach dem Fall der Berliner Mauer die Jugend nichts mehr abschaffen, nichts mehr einführen, nichts mehr kritisieren will, das außerhalb von ihr liegt, so Diedrich Diederichsen in dem Buch „Freiheit macht arm. Das Leben nach Rock’n’Roll 1990-93“ aus dem Jahr 1993. Das Wesentliche ist aber, dass es in diesem Text von Maria Muhar gar nicht um das Lebensgefühl der 90er Jahre geht, in denen die Protagonisten noch Kinder waren, sondern um ein Lebensgefühl aus zweiter Hand, den Versuch, die Unbekümmertheit der Vergangenheit in die Gegenwart zu retten. Folgerichtig titelt der Roman „Lento Violento“, eine Stilrichtung der elektronischen Musik, die auf den italienischen DJ Gigi D’Agostino zurückgeht, der seine DJ Sets langsamer als gewöhnlich spielte, diese jedoch mit harten Bass Drum Schlägen grundierte und mit vokalen Samples und Loops anreicherte. Diese Stilrichtung, zugleich eine Lebenshaltung, eine Lebenseinstellung, der man nicht mehr entkommt, hat D’Agostini als „lento, violento“, also „langsam, hart“ bezeichnet, oder in seinen Worten aus „L’amour toujours“ von 1999: „There is no choice, I belong to your life.“

Maria Muhar Lento Violento
Roman.
Wien: Kremayr & Scheriau, 2022.
208 S.; geb.
ISBN 978-3-218-01325-3.

Rezension vom 06.09.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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