#Roman

Lemmings Himmelfahrt

Stefan Slupetzky

// Rezension von Daniela Völker

Der regionale Kriminalroman erlebt derzeit etwas, was man gewiss einen „Boom“ nennen kann: Fast jedes Gebiet im deutschsprachigen Raum hat seinen eigenen Kommissar oder wenn nicht, dann zumindest einen Autor, der in heimatlichen Gefilden morden lässt. Man denke hierbei an Tessa Korber aus dem fränkischen Raum, der literarisch bisweilen als nicht sehr erschlossen galt oder an Carmen Korn („Tod eines Politikers“, S. Fischer), die ihr Team in Hamburg ermitteln lässt. Beispiele gibt es unzählige.

Dass sich auch Wien für das Krimimilieu bestens eignet, haben in den vergangenen Jahren keine Geringeren als Wolf Haas oder Eva Rossmann gezeigt: Etliche andere sind in ihre Fußstapfen getreten, wie die zahlreichen Veröffentlichungen auf diesem Gebiet und österreichische Krimianthologien zeigen. Auch Stefan Slupetzky gehört zu ihnen, der mit seinem Lemming eine sehr eigenbrötlerische und typisch wienerische Figur erschaffen hat. Der Kommissar, der hier ermittelt, ist mittlerweile zu einer Art Privatdetektiv degradiert worden, nachdem er von seinem Vorgesetzten Krotznig, der immer wieder eine Rolle spielen wird, an die Luft befördert worden ist. Lemming ist natürlich nicht sein richtiger Name: Er heißt Wallisch, Leopold Wallisch, und der „Lemming“ haftet ihm an, nachdem er bei einem Einsatz nicht schnell genug die Waffe zückte, worauf ihn Krotznig vor versammelter Mannschaft „woamer Lemming“ genannt hat. Der „Lemming“ haftet ihm also an wie das Unglück, das dieser gar zu gerne an sich zieht.
2004 ermittelte der Lemming das erste Mal in „Der Fall des Lemming“(Rowohlt) – und obwohl sich der Ermittler meist als recht tolpatschig erwies, hat er es geschafft, diesen ersten Fall zu überstehen, eine neue Liebschaft daraus mitzunehmen und in einen zweiten Fall hineinzuschlittern.

Mit dieser Liebschaft, Klara Breitner, setzt auch die Handlung in Lemmings Himmelfahrt ein. Seit dem letzten Fall ist ein Jahr vergangen und der Lemming ist immer noch mit Klara zusammen – allerdings eher schlecht als recht, wie er resümiert, als er einen anderen Mann bei ihr zu Hause entdeckt. In seiner Verzweiflung und Deprimiertheit zieht es ihn klischeegemäß zum Seidel Bier, das er sich im Café Dreher am Naschmarkt genehmigt. Und als ob das alles nicht schon schlimm genug wäre, wird er auch noch Augenzeuge eines Mordes am Krankenpfleger Ferdinand Buchwieser. Da der wahre Täter entwischt, mutiert der Lemming schnell zum Hauptverdächtigen, der aber immerhin clever genug ist, in den Tiefen der Stadt unterzutauchen.
Es wird Zeit für einen Plan , der zunächst darin besteht, sich am Arbeitsplatz des Opfers etwas näher umzusehen. Und so simuliert der Lemming zuerst einen Unfall mit darauffolgendem Gedächtnisverlust, um in die psychatriche Klinik „Unter den Ulmen“ eingeliefert zu werden, wo Buchwieser als Krankenpfleger tätig war. Dass dort weniger die Patienten, sondern eher die Angestellten und Ärzte die Irren sind, das erfährt der Lemming am eigenen Leib: Eifersuchtsdramen, Neid und Missgunst sind hier an der Tagesordnung, so dass der Tote am Naschmarkt nicht der einzige Tote bleibt. Jeder scheint irgendwie Dreck am Stecken zu haben, was der Lemming – als Verrückter getarnt – herauszubekommen versucht. Dass er selbst dabei zum Spielball in einem gefährlichen Spiel wird, merkt er erst, als es wirklich brenzlig wird und er nicht nur den vermeintlichen Mörder hinter sich her weiß, sondern auch seinen Erzfeind Krotznig, der ihn unbedingt sehen möchte: und zwar tot. Diesen Gefallen kann der Lemming seinem Vorgesetzten auch nach 285 Seiten nicht tun, denn mit viel Glück, mit Hilfe der Irren (Patienten!) und mit Hilfe der Bibel, die ihm einen Einblick gibt, wie die Jungfrau zum Kinde kommen kann, schafft er es wieder einmal, Gröberem zu entkommen.

Zum Glück, denkt sich der Leser, denn Slupetzky hat es bereits mit diesem zweiten Buch über dem Lemming geschafft, dass einem dieser Antiheld richtig ans Herz wächst mit seinen ganzen Eigenheiten. Die Figur des Privatkommissars ist glaubhaft, witzig, menschlich … all das, was gute Kriminalromane der letzten Jahre auszeichnet, wenn man beispielsweise an die Kollegen aus Schweden und Italien denkt. Sehr faszinierend am Lemming ist auch, dass er oft dem Bösen, dem Zwielichtigen näher steht als den Hütern des Gesetzes und dass Slupetzky in seinen Romanen zumindest ansatzweise die Krimiwelt auf den Kopf stellt, wenn man beispielsweise an den korrupten Krotznig denkt, der nicht davor zurückschreckt, bei Mitarbeitern Gewalt anzuwenden und seine Amtsmacht auszunutzen.
Für Nicht-Wiener könnte es an manchen Stellen etwas zäh werden, da die direkte Rede zumeist in Wienerisch verfasst ist, was allerdings den Charme dieses Kriminalromans ausmacht.

Der Roman ist aus zwei Perspektiven erzählt: Zum einen schildert er Lemmings Dilemma und beginnende Ermittlungen, zum anderen werden immer wieder Episoden und Stationen aus dem Leben des Täters eingeblendet, was anfangs verwirrend erscheinen mag, sich aber letztlich zu einem hervorragend komponierten Ganzen entwickelt, bei dem der Leser dem Lemming eigentlich immer einen kleinen Schritt voraus ist. Zudem zeigt sich dieser Kriminalroman voller Bilder und Metaebenenen, vor allem aus dem biblischen Bereich, was mit dem Spleen eines Patienten bzw. mit der Herkunft eines Kindes zu tun hat, das in der Tat jungfräulich geboren wurde – und letzten Endes auch mit einem guten Gott in der heutigen bösen Zeit. Die Bildhaftigkeit zeigt sich aber auch in der Alltagssprache und im Denken des Lemmings: etwa wenn er panisch gegen Ende „ein weißes Ei am Firmament“ausmacht, das sich schließlich als Zeppelin entpuppt und nicht als neuerliche Katastrophe.

Bei der Lektüre von Lemmings Himmelfahrt kommt einem – nicht nur durch den Ort des Geschehens – unmittelbar ein Vergleich mit Dürrenmatts „Physikern“in den Sinn, mit dessen Skurrilität Slupetzky durchaus mithalten kann.
Manchmal geht alles ein bisschen schnell: man denkt, da hat einer (zu?) viel gewollt: viele Personen, noch mehr Handlung, Tempo – inwiefern das gutgeht, muss jeder Leser für sich entscheiden. Eines sei in jedem Fall gesagt: Langweilig wird es einem mit dem Lemming in Wien nicht so schnell. Und deshalb ist gegen einen dritten Fall nichts einzuwenden!

Stefan Slupetzky Lemmings Himmelfahrt
Lemmings zweiter Fall.
Reinbek: Rowohlt, 2005.
285 S.; brosch.
ISBN 3-499-23882-9.

Rezension vom 20.06.2005

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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