#Roman

Leirichs Zögern

Rudolf Habringer

// Rezension von Andreas Tiefenbacher

Gregor Leirich wächst als eines von drei Kindern eines Gemeindesekretärs, der auch Artikel für die Lokalzeitung schreibt und zu allerlei Anlässen Verse dichtet, in einer von Bauern und Arbeitern bewohnten Gemeinde auf. Im Alter von fünf Jahren beginnt er zu ministrieren; als er acht ist, stirbt die Mutter. Dieser traumatischen Erfahrung hält er den Glaubenssatz Ein Indianer kennt keinen Schmerz entgegen, der sich später in seiner Neigung entlädt, immer mit dem Schlimmsten zu rechnen.

Nach der Volksschule kommt er ins Internat nach Linz und beginnt Klavier zu lernen. Die Musik stellt nicht nur ein Verbindungsglied zum Vater dar, der daheim ein altes Pianino hat; sie, die immer da ist, wenn sonst niemand da ist, wird auch seine Trösterin und zum wichtigen Ersatz für jenes aus fortgehen, Mädchen kennenlernen, feiern, ausflippen und reisen bestehende „fantasierte Leben“, das er anderen Jugendlichen zuschreibt und für sich vermisst.

Außer dem jährlichen Schulschikurs und einer „Sommerurlaub“ genannten Fahrt zu den Verwandten nördlich der Donau hat der Vater materiell nicht viel zu bieten. Das Meer bekommt er daher erst als Oberstufenschüler zu Gesicht. Umso mehr regt sich in dieser Zeit sein kritisches Bewusstsein: Aus Protest gegen die als spießig und konservativ verschrienen „Hutmenschen“ (vornehmlich an der Macht befindliche Männer) trägt er die Haare schulterlang. Sein Bedürfnis, der Welt der Väter, dem Dorf und den dort herrschenden Regeln zu entkommen, wird immer drängender. Er beginnt ein Studium der Geschichte, hört Ö3, setzt sich mit Pop und Jazz auseinander und lernt auf einem Institutsfest an der Uni seine spätere Frau Ariane kennen. Die Dissertation schreibt Leirich über Österreichs Presselandschaft nach dem 2. Weltkrieg, erwirbt sich als freiberuflicher Historiker den Ruf eines Medienexperten, muss aber seine bescheidenen Einkünfte als Lehrbeauftragter durch Vorträge und Klavierspielen in einem Café aufbessern.

Inzwischen ist er 60 Jahre alt und geschieden, lebt in einer Mietwohnung im dritten Stock, geht mit dem Rucksack zum Diskonter einkaufen und manchmal zum Fußball. Er hat eine Vorliebe für frisch gefallene Kastanien, benutzt einen Taschenkalender aus Papier und für die Gelsenjagd einen Band Erzählungen einer Adalbert-Stifter-Ausgabe. Seine Nachbarn kennt er nur vom Sehen. Tochter Hanna, von deren Leben er in den letzten Jahren wenig mitbekommen hat, ist auch schon siebenundzwanzig und studiert in Wien.

Seinem Gefühl nach kommt Leirich höchstens „ruckelnd vorwärts“, wenn überhaupt. Eigentlich geht es sogar eher abwärts, ja sieht sich der „prokrastinierende Wissenschaftler“ (Eigendefinition) einem Maulwurf gleich dilettierend durch die enge Röhre seines Lebens lavieren, glaubt er doch (nur weil er bei einem Projekt ausgebootet worden ist), den Anschluss an die „Forschungs-Community“ zu verlieren.

Gegen diesen gerade durch seine Zeitungslesesucht angestauten Pessimismus versucht er, sich mit „Vor-sich-Hinsagen von skeptisch-pessimistischen-apokalyptischen Zukunftsprognosen (…) Erleichterung“ zu verschaffen. Als „Hoffnungsprojekt“ sieht er einzig sein Verhältnis zu Kollegin Gabriele Eichner. Mit der etwas jüngeren, hübschen Zeithistorikerin hat er nicht nur schon mehrere Lehrveranstaltungen abgehalten, mit ihr ist er gelegentlich auch auf einen Kaffee oder etwas essen gegangen, gibt es doch neben gemeinsamen Gesprächsthemen auch immer etwas zu lachen. Am Institutsausflug kommen sie sich dann sogar „ungeplant“ näher. Obwohl außer Küssen keine weiteren Begehrlichkeiten folgen, hätte Gregor das Verhältnis zu Gabriele gerne „über das Stadium freundlicher Sympathie hinaus“ weiterentwickelt. Doch anstatt ihr zu sagen, dass er sie begehrt, zögert er: Erstens hat ihm der Vater immer eingebläut, die Triebe gefälligst im Zaum zu halten; und zweitens ist er nicht gerade mit einer Überdosis Selbstbewusstsein ausgestattet. So ist Gabriele es, die ihm während eines Spazierganges erklärt, sich in einen Kollegen aus Wien „verschaut“ zu haben.

Mit einer nicht minder brisanten Neuigkeit konfrontiert ihn eine ältere Frau nach einem seiner Vorträge: Er soll den gleichen Vater haben wie ihr Bekannter Johann Preinfalk. Obwohl er sich über die Jahre ein System vorauseilender Schutzgedanken aufgebaut hat, das ihm dabei hilft, jederzeit mit allem zu rechnen, bringt ihn die Nachricht ordentlich durcheinander; ja sie löst einen richtigen „Gefühlswirbel“ in ihm aus. Alleine die Frage, welche Quellen es einzusehen gäbe, um Klarheit in die Angelegenheit mit seinem Halbbruder zu bringen, macht ihm Angst, könnten dadurch doch auch Dinge ans Licht kommen, über die Jahrzehnte geschwiegen worden ist. Und doch will er herausfinden, weshalb der Vater sich nicht offen zu seinem unehelichen Kind bekannt hat.

Indem er falsche Tatsachen vorschützt, verschafft sich Leirich schließlich Zugang zu einer Jugendamtsakte, aus der hervorgeht, dass sein Halbbruder der Liaison des damals 20jährigen Vaters mit einer jungen Frau aus dessen unmittelbarer Nachbarschaft entstammt und 1940 geboren wurde. Der Fund dieser Dokumente lässt ihm die Familie auf einmal wie einen riesigen „Bluff“ erscheinen, an den er sein ganzes Leben lang irrtümlich geglaubt hat. Wieder übermannt ihn ein Zögern. Er braucht zwei Wochen und mehrere Anläufe, bis er Johann Preinfalk kontaktiert und seine beiden Schwestern aufklärt.

Der Umstand der plötzlichen Bruderschaft ist nicht das einzige Mal, wo der beiläufige Zufall eine Rolle spielt: So lernt er (während er eigentlich auf eine andere wartet) seine spätere Ehefrau Ariane kennen oder wird vom Sohn seines späteren Halbbruders mit seinem Equipment zu einem Auftritt gebracht, ohne dass beide von einander wissen; und die ihm ein Hörgerät anpassende Birgit Firleis ist nicht nur die Tante seiner Studentin Cornelia Maurer, sondern sie geht, anstatt in der Fremde ein neues Leben zu beginnen, mit einer Freundin ins Casino (was er beobachtet). Und das ist an schönen Zufällen längst nicht alles. In Manier eines Verknüpfungsartisten und Zufallskonstrukteurs integriert Rudolf Habringer das „Modell der Koinzidenz, des gleichsam zufälligen, schicksalhaften Zusammenführens von Figuren“ in eine tiefgreifende Handlung, die ganz nebenbei auch Figuren aus vorhergehenden Romanen (Island-Passion, Engel zweiter Ordnung und Was wir ahnen) präsentiert, wie den Bestattungsunternehmer Ewald Sendelsburner oder den Privatdetektiv Harald Seisenbacher, dessen Büro sich in Nachbarschaft zu Gregor Leirich befindet und (weil jener bei einer Observierung erschossen und in einem Waldstück an der tschechischen Grenze aufgefunden worden ist) jetzt von einem jungen Türken geführt wird.

Wie die Lebenswege von Menschen miteinander verknüpft sind, wie sie sich kreuzen oder wie Menschen, die durch etwas miteinander verknüpft sind, einander knapp verfehlen, derlei Aspekte spielen in Rudolf Habringers Romangestaltung eine große Rolle. Dementsprechend zieht sich dieses Prinzip der Serendipität, das eine zufällige Beobachtung von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem als überraschende Entdeckung ausweist, wie ein roter Faden durch den 25 Kapitel langen, selbstreflektierenden, in Ich-Form gehaltenen Bericht. Wenn darin etwa das Erstarken des Rechtspopulismus in Europa als „Folge des Versagens der gegenwärtigen Tagespolitik“ interpretiert oder provokant überlegt wird, ob dem Wissen um Details aus dem Nationalsozialismus heute nicht etwa die gleiche Bedeutung zukäme wie Netzbeschreibungen über Pizzazusteller und Fastfoodketten, oder diverse Artefakte (Das Klavier, Die Schreibmaschine, Der Hut etc.) verhandelt werden, denen kleine Darstellungen gewidmet sind, oder die Hauptperson ins „angenehm temperierte Fußbad (ihrer) Opferrolle“ hinein gleitet, darf man den Autor als feinfühligen Beobachter und gewitzten Kritiker kennenlernen, der die Nähe zu seinem Protagonisten auch dadurch unterstreicht, dass er ihm die eigenen Geburtsdaten verpasst; eine kleine Facette, die allerdings einigen Interpretationsspielraum zulässt.

So kann man Leirichs Zögern als autobiografisch grundierte Geschichte über eine Familie lesen, die durch detaillierte Rückblenden in die Vergangenheit, kompositorische Vielschichtigkeit, unverblümte Wahrheitssuche, genuine Beschreibungen und eindringliche Analysen über Autorität, Beziehungen, Nachkriegsjahre und den „schleichenden Vorgang des Verstummens“ sehr beeindruckt. Man folgt dem etwas verschrobenen, sensiblen „ganz Old School Achtundsechziger“ auf seiner Mission, den Deckel eines offensichtlichen Familiengeheimnisses zu lüften, daher mit Spannung und großem Interesse.

Rudolf Habringer Leirichs Zögern
Roman.
Salzburg: Otto Müller, 2021.
302 S.; geb.
ISBN 978-3-7013-1284-9.

Rezension vom 10.05.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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