#Sachbuch

Leichte und schwere Literatur

Sylvia Paulischin-Hovdar (Hg.)

// Rezension von Martin Sexl

Der von der Germanistin und Kulturwissenschaftlerin Sylvia Paulischin-Hovdar herausgegebene Sammelband Leichte und schwere Literatur versammelt die Beiträge ehemaliger Teilnehmer*innen des Franz Werfel-Stipendiums, die sich 2019 in Wien zu einer Tagung zusammengefunden hatten. Der Titel des Bandes lässt eine wirkungs- bzw. wahrnehmungsästhetische sowie leserorientierte Perspektive auf literarische Texte erwarten: Es werden im Untertitel nicht nur die Empfindungen der einzelnen Leserin und des einzelnen Lesers in der Lektüre in den Vordergrund gerückt, auch die titelgebenden Kategorien Leichtigkeit und Schwere implizieren, dass die Kompetenzen von Leser*innen eine Rolle spielen: Hängt doch die Wahrnehmung von leicht und schwer immer davon ab, wieviel Komplexität und ‚Gewicht‘ jemand zu bewältigen in der Lage ist.

Der Klappentext des Buches bringt einen weiteren Aspekt ein, nämlich einen literaturkritischen. Dieser fragt danach, wie (ab)wertend unsere Lektüren sind und wie wir die Differenzen zwischen high und low culture beurteilen. Auf dem Backcover heißt es nämlich: „Dürfen sich die Possen der Weltliteratur ein Regal teilen mit den gesammelten Schriften der Frankfurter Schule? Sind die Brenner-Krimis von Wolf Haas als gleichwertig zu sehen mit den philosophischen Schriften von Jacques Derrida und Michel Foucault? Die Literaturtheorie gibt uns ein umfangreiches und ausgeklügeltes Instrumentarium an die Hand, um diese und ähnliche Fragen immerhin differenziert diskutieren zu können. Am Ende entscheidet aber immer der Leser über die Wertigkeit eines Texts – und das Moment individuellen Leseglücks.“

Ganz abgesehen von der Frage, zu welchen literarischen Texten Leser*innen durch welche diskursiven Mechanismen (die notwendigerweise immer etwas Hegemoniales an sich haben) überhaupt Zugang finden – gibt es doch zwischen Text und Leser*in eine ganze Reihe von Gatekeepern wie Schule, Verlagswesen, Buchhandel, Literaturkritik, Presse etc. – wird im Klappentext eine Konkurrenz aufgezogen, die zwei Gegenfragen hervorruft: Werden hier nicht unvergleichbare Dinge miteinander in Beziehung gesetzt? Und was ist mit „gleichwertig“ überhaupt gemeint? (Gleichwertigkeit kann eine Kategorie der Ökonomie, der moralischen Wertung, der Pädagogik, der Rechtsprechung, der Zivilgesellschaft, der Literatur- und Kunstkritik, der Politik etc. sein.) Ganz unabhängig von der Relevanz und der Qualität der einzelnen Beiträge, geben viele davon, wie auch der Band generell, keine wirklich zufriedenstellenden Antworten auf diese Fragen, denn es bleibt an einigen Stellen ein wenig unklar, auf welchem Feld man sich gerade bewegt und welche Kategorien zu dessen Strukturierung und Analyse zur Anwendung kommen.

Die Unklarheit die Kategorien betreffend wird dann ersichtlich, wenn das Gegensatzpaar leicht/schwer – das wahrnehmungs- oder darstellungsästhetisch gelesen werden kann, weil es auf Lesekompetenzen oder auf den Komplexitätsgehalt bzw. -grad von Texten abzielt –, mit Wertungsurteilen in Verbindung gebracht werden, die schwer/leicht allzu schnell mit gut/schlecht (wertvoll/wertlos, wertvoll/banal, wertvoll/trivial, erwünscht/unerwünscht, hochwertig/minderwertig etc.) in Verbindung bringen und dadurch vorhersehbar, aber ebenso zu schnell, auf der einen Seite kulturpessimistische Zustimmung, die etwa mit Adornos Vorwurf an die Kulturindustrie argumentiert wird, oder auf der anderen Seite Kritik auslösen. Und die Einwände der Kritik (oder auch der Wissenschaft) gegen die Verurteilung des Leichten = Schlechten können vielfältig sein und Leichtigkeit als demokratisch, didaktisch wertvoll, breitenwirksam o.ä.m. verteidigen.

Wenn schwer/leicht als gut/schlecht gelesen wird – und diese Gleichsetzung auf der Metaebene der Wissenschaft wiederum als gut/schlecht interpretiert werden kann – und das wiederum zu schnell mit high/low in Verbindung gebracht wird, dann wird man fast zwangsläufig blind dafür, dass es eine ganze Fülle an ‚leichter‘ Literatur gibt, die Teil der high culture bilden (und umgekehrt) und dass es vielleicht auch nicht die massenwirksame (vormals ‚triviale‘) oder die als politisch korrekt wahrgenommene Literatur ist, die der Verteidigung vor Angriffen aus elitären Kreisen bedarf: Es mag schon sein, dass viele Literaturwissenschaftler*innen und Intellektuelle immer noch die Nase rümpfen, wenn sie in die Nähe von Krimis, Groschenheften oder Comics geraten (aber selbst das ist zu bezweifeln) bzw. mit literarischen Texten konfrontiert werden, die sie – ob Zurecht oder zu Unrecht, sei einmal dahingestellt – als zeitgeistig und gehypt wahrnehmen (‚Frauenliteratur‘, ‚Minderheitenliteratur‘, ‚afrikanische Literatur‘ etc.), aber man darf nicht vergessen, dass in Zeiten einer überdrehten Aufmerksamkeitsökonomie und einer neoliberalen Logik ein vieldeutiges und ‚schwieriges‘ Gedicht die schlechteren Karten hat als vieles, was (ob tatsächlich oder vermeintlich, ob zurecht oder nicht) abgewertet wird. Zumal auch die Frage erlaubt sein muss, wo Ablehnung sinnvoll ist und wo sie zum Problem wird: Auf dem Feld der Ökonomie wird man die Dinge anders sehen und beurteilen müssen als in der Pädagogik, der Literaturkritik oder der Literaturwissenschaft.

Viele Beiträge weichen diesen Fragen und Unklarheiten allerdings in einem gewissen Sinne aus (und das schadet ihnen in den allermeisten Fällen keineswegs, auch wenn dadurch die Lesererwartungen, die an den Band wohl generell gerichtet werden, nicht unbedingt erfüllt werden), in dem sie sich auf die Kernkompetenz der Literaturwissenschaft besinnen, nämlich die Analyse literarischer Texte und ihrer Kontexte. (Ein paar Beiträge hätte man allerdings etwas sorgfältiger lektorieren sollen.) Weil es dabei keine – thematische, historische, gattungspoetische o.ä.m. – Klammer gibt, fällt der Band ein wenig auseinander, denn die Beträge decken völlig unterschiedliche Bereiche ab, die von einer allgemeinen philosophischen Auseinandersetzung (Paola Di Mauro) über die Untersuchung von Galgenliedern (Laura Cheie), Science-Fiction am Beispiel von Mark-Uwe Klings QualityLand (Maria Endreva), Nicolas Mahlers autobiografischen Karikaturen (Kalina Kupczynska), Albert Drachs Gottes Tod ein Unfall (Judit Szabó) oder deutschsprachiger Literatur mit Afrika-Bezug (Jean Bertrand Migoué) bis zu Betrachtungen über die Studentenbewegung 1968 „und die Literatur danach“ (Eva Höhn), über digitale Literatur und „Hypertext-Euphorie (Zdenek Pecka), über den „leichten“ Schnitzler und den „schweren“ Hofmannsthal in Bulgarien (Mladen Vlashki) und über den „politisch korrekten österreichischen Kriminalroman der Gegenwart“ (Gábor Kerekes) reichen.

Nicht alles ist dabei wirklich überzeugend und einiges holzschnittartig geraten – unter anderem deshalb, weil sich einige Beiträge zu stark auf die inhaltliche Ebene literarischer Texte konzentrieren, aber gerade bei diesem Thema deren formal-rhetorische Ebene die entscheidendere wäre. Aber vieles ist auf jeden Fall ein Gewinn (und auch ein Lektüregenuss) für die Leser*innen. Drei Beiträge ragen dabei heraus, weil sie sich erstens den in Titel, Klappentext und Vorwort angerissenen Problemfeldern stellen und dabei zweitens präzise, klar und auf eine sehr erhellende und interessante Weise das gewählte Thema perspektivieren und analysieren.

Maria Endreva fragt am ‚Modell‘ der Science-Fiction nach den Differenzierungsmöglichkeiten von „hoher und trivialer Literatur“, den „hierarchisierten Machtmodellen“ (S. 59), die dabei eine Rolle spielen, und den (Stil-)Mitteln von SF-Literatur (etwa Parodie und Ironie), mit denen sie ihre eigene Verortung als Teil der Bewusstseinsindustrie (Enzensberger) bzw. Kulturindustrie (Adorno) unterlaufen, ohne dabei aufzuhören, Teil der SF-Literatur zu bleiben. Durchgespielt wird dies anhand Marc-Uwe Klings „erfolgreiche[r] Parodie der trivialen Science-Fiction“ (S. 69) QualityLand.

Kalina Kupczynska nimmt sich Nicolas Mahlers autobiografische Karikaturen vor, anhand derer sie die üblichen Kategorisierungen von Comics (als Comics, als Graphic Novels, als Karikaturen etc.) und das (fehlende) Prestige des Genres oder das Comics publizierender Verlage hinterfragt sowie das selbstreflexive Potential von Mahlers Karikaturen, genau diese Kategorisierungen und den Prestigemangel auszuhebeln, herausarbeitet. Dass man dabei mit high und low nicht weit kommt, wird bald ebenso klar wie die Tatsache, dass man Adornos Vorwürfen an die Kulturindustrie und ihren Wirkungen zwar durchaus und zurecht folgen kann, dass aber nicht alle Produkte der Kulturindustrie auch ‚kulturindustriell‹ wirksam sein müssen. Denn die Kulturindustrie kann, und das wird in diesem Beitrag gezeigt, ihre eigene Kritik und Subversion mit ihren eigenen Mittel hervorbringen.

Mladen Vlashki bietet eine präzise Analyse der Rezeption des „leichten“ Schnitzler und des „schweren“ Hofmannsthal in Bulgarien und nimmt so den Impetus des Bandes erfreulich ernst. Durch die differenzierte und detaillierte Kontextualisierung der Vermittlung der Texte von Schnitzler und Hofmannsthal in der bulgarischen Literatur und Kultur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (durch Übersetzungen, verlegerische Tätigkeit, vermittelnde Literaturkritik etc.) wird eines sehr klar: Die Frage nach dem Leichten und dem Schweren ist nicht alleine eine Frage der Merkmale von Texten und/oder der Kompetenzen eines Leserpublikums, sondern umfasst sehr viel mehr – etwa das Prestige, das Übersetzungen in einer Kultur genießen; die (ökonomischen, juristischen, politischen) Möglichkeiten, Literatur zu vermitteln; den Bildungsstand und den Erwartungshorizont eines (durchschnittlichen Leserpublikums); Fragen der Fremd- und Selbstzuschreibung bestimmter als ‚national‘ oder ‚kulturell wertvoll‘ wahrgenommener Kategorisierungen etc. Und weil es dabei eine ganze Reihe von dialektischen Prozessen gibt (in denen es auch zu hermeneutischen ‚Zirkelschlüssen‘ kommt), ist die Frage nach leicht und schwer keine leichte.

Sylvia Paulischin-Hovdar (Hg.) Leichte und schwere Literatur
Die Vielfalt individuellen Leseglücks.
Wien: Praesens, 2020.
184 S.; geb.
ISBN 978-3-7069-1060-6.

Rezension vom 05.05.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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