Ludwig Hartinger arbeitet seit 1985 in verschiedenen Verlagen als Lektor, derzeit unter anderem für den Otto Müller Verlag in Salzburg, wo im August 2022 auch sein neuestes Werk Leerzeichen erschien. 1952 in Saalfelden am Steinernen Meer geboren, lebt er dort noch immer, wenn auch unterbrochen von langen Aufenthalten im slowenischen Karst, der für ihn zur zweiten Heimat geworden ist. Längst dichtet er zweisprachig, übersetzt slowenische Literatur, daneben auch französische, und hat sich auch als Essayist einen Namen gemacht. Hartingers Liebe gilt jedoch der Lyrik, und so sehr er ein Europäer, ein Grenzgänger und Grenz-Überschreiter im literarischen Sinne ist (Ehrungen wie der Preis der Central European Initiative oder der Tone-Pretnar-Preis als Botschafter der slowenischen Literatur zeugen davon), so findet er doch seine Sujets im Kleinen, all jenem, was nahebei und vor allem in der Natur aufzuspüren ist: „durch augenblicke segeln / mit einem lichten windherz“.
Seine Leerzeichen lassen sich als Fortsetzung früherer Werke lesen, die alle der Untertitel „Aus dem dichterischen Tagebuch“ verbindet. Der aktuelle Band umfasst die lyrischen Eindrücke der vergangen vier Jahre. Der Autor, der sich auch gern als „Wortlandstreicher“ bezeichnet, offenbart damit seinen spezifischen Zugang zu Literatur: den des stets im Reich der Zeichen und Bedeutungen unterwegs befindlichen behutsamen Entdeckers.
Seine Auseinandersetzung mit Landschaften und Jahreszeiten, mit dem Augenblick in natürlicher Umgebung scheint zunächst eine ganz unmittelbare zu sein. Fast lässt sich an Rilkes Malte Laurids Brigge denken, dessen „Aufzeichnungen“ ja auch jene Engführung von Erlebtem und Gesehenem, Erinnertem und Imaginiertem sind, über den die Literaturwissenschaftlerin Natalie Binczek schreibt: „Er versucht, ein Kopist dessen zu werden, was ihn umgibt.“ Das Schreiben wirkt wie eine Vergegenwärtigung des eigenen Lebens. Dabei gibt es nur sehr selten einmal ein explizites lyrisches Ich in diesen Texten, häufig jedoch ein Du, das eine ambivalente Stellung einnimmt und je nach Kontext und Perspektive eine angesprochene Person wie auch eine reflektiv-distanzierende Position zum Ich bezeichnen kann: „hörst im tagsund wieder / die spindel schweigegarn / beug dich im narbenschein / über das vogelrebus“.
Wo hingegen hin und wieder etwa ein Wir auftaucht liest es sich mitunter eher wie eine sentenzhafte Verallgemeinerung und weniger als Konkretion zweier unmittelbar zusammengehörender Personen: „was uns fehlt lebt uns nicht / was nicht atmet webt nicht“.
Die Unmittelbarkeit der lyrischen Aufzeichnung manifestiert sich auch in der Form des zu Papier Gebrachten. Es überwiegen die lediglich durch einen Gedankenstrich getrennten Drei-, Vier- und Fünfzeiler, die sowohl in ihrer Abfolge als auch ganz und gar für sich genommen gelesen werden können. Die individuellen Verbindungsmöglichkeiten, die sich für Hartingers Lesepublikum dabei ergeben, sind vielfältig. Die Gedankenstriche markieren die „Leerzeichen“, das „Zwischen“, um welches es Hartinger offensichtlich zu tun ist, wie es auch der nur scheinbar kryptische Rücktitel des Buches verrät: „Im Zwischen geschieht alles …“.
Doch auch innerhalb der kleinen strophenartigen Gespinste finden sich die Leerstellen, die, zunächst überlesen, beim Erkennen neue semantische Bezüge eröffnen: „herweg durch das unterholz / blitzen stille lichtungen / in den schleier regen streckt / ihre abschiedshand die stadt“. Bis ins einzelne Wort gehen diese Zäsuren und machen unterschiedliche Bedeutungsräume auf: „im dunklen dachboden / atmest wieder kindstaub / stumme augensiegel“, je nachdem, ob man das Adjektiv kinds-taub oder das Substantiv Kind-Staub wahrzunehmen vermeint.
Was sich also so scheinbar als unvermittelt, gar unbearbeitet aus der Feder geflossen gibt, dass man anfangs geneigt ist zu fragen, ob denn hier überhaupt im Sinne des Lyrikers José F.A. Olivers die vier Stationen des Schreibens, nämlich Notiz, Notat, Verdichtung, Gedicht tatsächlich bis zum Ende durchlaufen wurden, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als ganz bewusst und mit großem Einfühlungsvermögen für Sprache und Sinnlichkeit gestaltetes Ganzes, das für sich seine ureigene Form gefunden hat.
Hinzu kommen die vielfältigen literarischen Bezüge, die Hartinger in seinen Leerzeichen aufgreift. Alles ihm Erklärungsbedürftige wie fremdsprachliche Einsprengsel, bestimmte Ortbezeichnungen sowie vor allem zahlreiche Zitate wurde in Kursiva gesetzt und in einem kurzen Anhang erläutert. Dieses Verfahren beginnt gleich mit einem Konvolut aus zitierten Versatzstücken, Motti, die sich in ihrer Abfolge als montiertes Gedicht lesen lassen und damit den formalen Aufbau, aber auch wesentlich Inhaltliches des Buches schon vorwegnehmen. Hier finden Zitate des chinesischen Dichters Wang Wei aus dem achten Jahrhundert v. u. Z. („alles ist scheints anwesend oder abwesend / seis oben seis unten“) bis hin zu der 1968 geborenen mexikanisch-zapotekischen Autorin Natalia Toledo Paz Eingang („… wir haben wurzeln in den wolken / doch treu sind sie nur dem wind“).
Wie sehr der „Wortlandstreicher“ Ludwig Hartinger auch in der Zwiesprache mit anderen Dichtenden steht, mag die folgende Stelle offenbaren: „buch um buch finden sich / neue nachbarschaften / und nacht für nacht wird / hin wie her geschrieben“.
Und ganz zum Schluss ergeht des Autors Einladung auf Einlassung noch einmal an seine Lesegemeinde, die er aus in ihrer Wahrnehmung Vereinzelten zusammengesetzt begreift: „komm in den vorhof, / passant / kein sinn atmet allein – „.