#Roman

Lebenskörner

Astrid Kofler

// Rezension von Roland Steiner

Astrid Kofler, 1965 in Bozen geborene Journalistin und Filmemacherin, schildert in ihrem Romandebüt die Schicksale von Südtiroler Grenzdörflern, die in gott- bzw. naturergebenem Vertrauen den Härten des Lebens und der diktatorischen wie demokratischen Politik trotzen. Auf den Folien wechselhafter Historie zeichnet sie fürsorglich den (ihr) erzählten Alltag in ein allgemein gültigeres Narrativ menschlicher Leiden und Freuden, sodass aus den „Lebenskörnern“ der Zeitzeugen ein plastisches Relief entsteht. Eine Gesellschaftsdarstellung, die der Nostalgie wie auch moralischer Kritik a posteriori entbehrt.

Im Mittelpunkt des Romans, dessen zeitlicher Bogen von 1927 bis 2007 reicht und der vorwiegend im namenlosen Dorf „am brüllenden See“ nahe der österreichischen Grenze spielt, stehen die Familien Strumpflohner und Tschugguel bzw. Ingannamorte und Esposito, Altösterreicher neben zugezogenen Süditalienern. Kreszenz Strumpflohner – in der Familie mit „Es“ angeredet – ist die Hebamme des Dorfes, ihr kriegsversehrter Sohn Johann nahm sich des Erstgeborenen von Magdalena an, dessen süditalienischer Vater wieder in seine Heimat zurückgekehrt war. Die Armut im Bauerndorf und auch die Repressalien Mussolinis trieben einige Männer nach Übersee, die Platznot am Friedhof lässt die Schwestern des Mesners lang bestattete Totenköpfe exhumieren, bemalen und in der Kapelle aufstapeln. War Giuseppe Ingannamorte während des Ersten Weltkrieges hier stationiert gewesen, so ziehen Luigi und Angiolina Esposito 1937 vom Süden ins nördliche Grenzland, um Geld zu verdienen. Der als „walsche Sau“ beschimpfte Luigi pachtet eine Bar und schenkt Weine aus der Heimat aus, sodass vor allem von Mussolini zwecks Italianisierung hoch gekarrte Süditaliener, die hier zu fünft in kleinen Mietswohnungen hausen, die mit Flipper und Einarmigen Banditen ausgestattete „Bar Maria“ frequentieren. Nach dem Abkommen zwischen dem „Duce“ und Hitler im Oktober 1939 sollten die deutsch- und ladinisch-sprachigen Südtiroler ihre Heimat in Richtung Deutsches Reich verlassen, das Dorf in dem die Kinder nicht mehr Deutsch lernen dürfen, zerstreitet sich und ein Großteil der Bürger optiert für die Auswanderung. Die Autorin enthält sich hierbei jeglicher Schuldzuweisung an einzelne Individuen und zeigt stattdessen die kaum verbalisierten inneren Nöte und die Familien sowie Partner trennenden Risse. Blasmusik und Trachten sind verboten worden, die Religionsausübung wird zum Widerstandsakt, der über die Jahrhunderte mit Naturmythen angereicherte Katholizismus zum inneren Exil und die (mikro-)nationale Dorfidentität bleibt einziges ideologisches Movens.

1943 werden die „Duce“-Bildnisse durch jene Hitlers ersetzt, doch auch die neue Macht hindert die Bevölkerung nicht am geheimen Praktizieren eines tiefen Glaubens, der mit archaischem Volksaberglauben alterniert. Der „Dableiber“ Johann Strumpflohner wird als „Walscher“ beschimpft, seine älteste Tochter Johanna geht in der weit entfernten Stadt zur Schneiderlehre, seine jüngste erhält vom an die Front geschickten Halbbruder ein Puppenhaus mit Hitler-Postkarte darin – ein Jahr später das Soldbuch des Gefallenen. Kurz vor bzw. nach Kriegsende eröffnet Astrid Kofler drei neue biographische Stränge: Ein in der afrikanischen Wüste lebender Junge namens Moshe wird ebenso eingeführt wie Rotkreuzschwester Judith Stadlwieser, die mit einem geretteten Soldaten Tochter Genoveva zeugt. Im Juli kehrt Peregrin Tschugguel in sein Dorf zurück, noch davor trifft er auf einen alten Mann, der ihm von der auch hier Opfer kostenden Euthanasie und der Bordellkasernierung der Frauen erzählt: „Die Viecher, das sind die Menschen.“ (73)

War es 1927 noch Giuseppe Ingannamorte, der als Samenhausierer ging, so handelt nun Peregrin als „Krumer“ mit dem Saatgut. Rosina Strumpflohner wird in Kreszenz‘ Nachfolge Hebamme sowie „Seelenhirtin und Anwältin“ (153) der Frauen, die es bitter nötig haben. Elf bis dreizehn Kinder waren bis dato ein durchaus gewohntes Faktum, nun müssen sich die Familien erst wieder – nicht nur in physischer wie psychischer Hinsicht – finden; neben den Kriegsheimkehrern versucht man auch die Kostkinder wieder aufzunehmen. Doch nahe dem Dorf wird eine Staumauer errichtet und aus drei Seen ein einziger, die Überschwemmung des Ortes ist offenbar einkalkuliert. Die Gräber lässt der Staukonzern auf den Hügel bringen, wo uniforme Häuser entstehen, deretwegen Generationen dienende Höfe aufgegeben werden müssen. Viele Bewohner ziehen (erneut) fort über die Grenze, der Identitätscharakter des Dorfes geht verloren.

Und mit diesem Verlust einer kollektiven Entität verschwinden teils auch die Sitten und Bräuche, die Kofler im Roman noch auslegt: etwa dass hier einst die Zahncreme noch selbst hergestellt wurde und das Brot nur viermal im Jahr, dass gemörserte Kröten menschlicher Fruchtbarkeit dienten, im Hausräuchermarsch das Alte und am „Holepfannsonntag“ der Winter vertrieben wurde. Denn: „Geheimnisse bewahren heißt sich Märchen bewahren, heißt Kraft bewahren, heißt sich die Zärtlichkeit bewahren.“ (106) Auch Kofler bewahrt sich durch den gesamten Roman eine poetische Zärtlichkeit und psychologische Einfühlsamkeit für ihre bisweilen expressionistisch gestalteten (vor allem) Frauen-, aber auch Männerfiguren, sodass die Perspektivenwechsel mit einer gewissermaßen intimen Emphase einhergehen. Einiges an Emotionalität bleibt auch implizit, so etwa der Trotz des 1956 zugezogenen „Walscher“ Finanzers Enrico Ingannamorte, Deutsch und Ziehharmonika zu lernen, nachdem er in der Nachfolge des verstorbenen Dorfmesners – ein solcher war auch sein Vater Giuseppe tief im Süden – begonnen hatte die Totenglocke zu läuten und die Totenköpfe zu bemalen. Der Graben zwischen den (Sprach-)Kulturen weitet sich aus: Ein Sohn von Luigi Esposito, der sein Lokal in „Bar Nazionale“ umbenannt hat, war ermordet worden im Wald vor dem Dorf, „in dem noch niemand beherzigen hatte wollen, dass seit vierzig Jahren andere Fahnen wehten.“ (115) Der Schuldspruch findet zu Beginn der Sechziger Jahre statt, als im Ort der Lebensmittelladen eines Süditalieners zerbombt wird und in der gesamten Provinz aus Protest gegen die Politik Roms, wo freilich die Tschugguel-Töchter ihr Geld verdienen, Strommasten und Häuser gesprengt werden. Doch unaufhaltsam zieht auch hier die Moderne ein: Die Geburtenrate sinkt, der Autoverkehr steigt, die Enkelkinder tragen bunte Strähnen im Haar, die Großmütter noch das Kopftuch. Assimilierung und Akkulturation halten sich die Waage, die Volksgruppen beginnen sich untereinander zu verheiraten – und neue Migrationswellen heben an. Während Gertrud Tschugguel als Missionarsschwester den Armen und AIDS-Kranken in Südafrika hilft, wird ein Mädchen ihres Ordensdorfes von Schleppern nach Südtirol gebracht, wo sie die Schulden abarbeiten muss.

Nicht erst zu Beginn des neuen Jahrtausends zeigt Kofler die Parallelität der Motive zu immigrieren, indem sie auf die einstigen Nöte in Europa rekurriert; die harte Gegenblende vom Südtiroler Volksgruppenstreit auf die südafrikanische Apartheid überlässt sie interpretatorisch dem Leser. Der Autorin, die ihren Figuren sehr nahe bleibt, gelingen präzise Beschreibungen des gestischen Widerstands zur Zeit der Faschismen und realistische, niemals folkloristische in Hinsicht auf das bäuerliche Milieu. In einer bildreich poetischen Sprache webt sie Natur- und Wetterphänomene wie auch Bibelzitate ein, ihr Blick pendelt stets zwischen Erde und Himmel bzw. Sozio- und Biotop und zeigt den Zyklus des Lebens, das je mit einem Neugeborenen beginnt. Eines Zyklus, der von Bescheidenheit und Gemeinschaft geprägt ist bis zum Tod, der hier als Teil des Lebens gilt. Doch jene Diskurse, die durch Höfe und Gasthäuser mäanderten und Hass bis zum Tod im Namen völkisch argumentierender „Führer“ mit sich brachten, dörren aus. Dank Astrid Koflers vortrefflichem Romandebüt aber bleiben sowohl die nationalistischen als auch die bäuerlichen Narrative Teil belletristischer Erinnerungskultur.

Astrid Kofler Lebenskörner
Roman.
Innsbruck, Wien: Haymon, 2010.
271 S.; geb.
ISBN 978-3-85218-632-0.

Rezension vom 03.01.2011

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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