#Sachbuch

Lebensfahrt

Andreas Latzko, Stella Latzko-Otaroff

// Rezension von Hermann Schlösser

Ernst, streng und klug untersucht der Schriftsteller Andreas Latzko in der 1932 verfassten Autobiographie Lebensfahrt die Umstände seines Lebens und Schreibens. Dabei liegt ihm nichts an Anekdoten und wenig an jenem „Unkraut des persönlichen Erlebens“ (S. 53), das er nur als Beweismaterial für gesellschaftliche Prozesse gelten lassen will. In programmatischer Bescheidenheit relativiert er durchwegs die Bedeutung seiner Person und seiner privaten Erfahrungen: “ . . . denn es soll hier persönlichen Erlebnissen nur Raum gewährt werden, wenn der Einzelfall als Beispiel Geltung für die Allgemeinheit hat.“ (S. 69).

Diese systematische Abwertung des Einzelnen durch das Ganze ist verblüffend, denn der Romancier, Dramatiker und Essayist Latzko hat alles andere als ein Durchschnittsleben geführt. 1876 in eine sehr wohlhabende Budapester Bankiersfamilie hineingeboren, erlebte er eine höchst privilegierte Kindheit. Wie er in seiner „Lebensfahrt“ darstellt, war diese Existenz jedoch gefährdet, denn schon der Schüler entwickelte ein scharfes Gespür für die Unterschiede von Reich und Arm. Seinen eigenen Beschreibungen zufolge plagte ihn von Jugend an „das ewige Schuldgefühl gegenüber den Stiefkindern des Glücks“ (S. 81). Wer Schuldgefühle kultiviert, wird allerdings auch schwach und erpressbar, was einige seiner Mitschüler skrupellos ausnutzten. Der reiche Erbe war nur zu bereit, fürs Akzeptiertwerden zu zahlen, sogar wenn er sich selbst dabei schadete. Als die umschwärmte Eleonora Duse in Budapest als Kameliendame zu sehen war, durfte der junge Latzko selbst die Aufführungen gar nicht besuchen, denn sie fanden zur selben Zeit statt wie die heiligen Abendessen, die mit dem Vater zusammen eingenommen werden mussten. Latzkos Freunde hätten zwar Muße für die Duse gehabt, doch war für sie der Eintrittspreis unerschwinglich. Sie meinten, der Bankiersspross könne ihnen den Theaterbesuch doch mühelos spendieren, was er schließlich auch tat. Freilich verfügte er durchaus nicht über so viel Taschengeld, wie seine Freunde unterstellten, und so versetzte er heimlich einen Ring seiner Mutter, ermöglichte damit den Ärmeren ihren Theaterbesuch und bekam dafür selbst eine empfindliche Strafe.

Latzko erzählt einige Erlebnisse dieser Art und verschweigt nicht, dass er als Jugendlicher darunter gelitten hat. Dennoch leitet er daraus keine Vorwürfe gegen seine Quälgeister ab. Er besaß – nach eigener Darstellung – schon früh ein Empfinden dafür, dass der Reichtum der einen auf der Armut der anderen beruht, und dass dies die Folge eines zutiefst ungerechten, und deshalb bekämpfenswerten Gesellschaftssystems ist. Deshalb kam für ihn eine Bankkarriere nach väterlichem Vorbild nicht infrage. Wie viele Menschen seiner Generation entkam er den Bahnen seines Herkommens, indem er sich der Literatur zuwandte. Der Vater, der von Latzko nicht als herzloser Ausbeuter beschrieben wird, sondern als kluger und humaner Mann, machte einige Versuche, den Sohn von den Vorteilen des Bankwesens zu überzeugen, billigte aber schließlich dessen Literatendasein – zumal sich sehr schnell Erfolge als Dramatiker (und damit auch Honorare) einstellten. Als junger Mann war der Autor auf diese Leistung stolz, in seinem Altersrückblick tut er sie als unerhebliche Äußerlichkeit ab. Er war eben ein durch und durch ernster Mensch.

Als der Erste Weltkrieg ausbrach, war Latzko 38 Jahre alt und als Autor anerkannt. Er hatte in jungen Jahren den üblichen Wehrdienst in der k.u.k. Armee abgeleistet und war als Reserveoffizier abgegangen. Als er 1915 gemustert wurde, war er schon ein überzeugter Pazifist. Heutigen Vorstellungen entsprechend, müsste ein Pazifist versuchen, den Dienst mit der Waffe zu verweigern. Andreas Latzko aber dachte und empfand anders. Er fürchtete den damals grassierenden Vorwurf, Pazifisten seien einfach Feiglinge und Schwächlinge. Um Kritiken dieser Art ein für allemal zu entkräften, nahm er den Kriegsdienst auf sich. Der untersuchende Militärarzt befand bei der Musterung, der Autor sei von schwächlicher Konstitution und wollte ihn untauglich schreiben. Latzko aber erklärte, dass er sich für den Dienst mit der Waffe stark genug fühle und unbedingt an die Front wolle. So kämpfte er in einem Krieg, den er hasste, bis ihn 1916 ein psychischer Zusammenbruch zum „Zitterer“ machte, wie die „postraumatische Belastungsstörung“ damals genannt wurde. In der Schweiz kurierte er sich aus und schrieb dabei seinen Novellenzyklus „Menschen im Krieg“, der 1917 erschien und – neben „Le Feu“ von Henri Barbusse und „Der Mensch ist gut“ von Leonhard Frank – zu den wirkungsvollen pazifistischen Publikationen der letzten Kriegsjahre gehörte.

Latzkos Autobiographie endet mit der Revolution von 1918 / 1919 – die der gesellschaftskritische Autor jedoch nicht für eine wahre Revolution hielt, da die alten militärisch-ökonomischen Eliten nicht nachhaltig entmachtet worden seien. Eine Fortsetzung seines Buches war geplant, aber es kam nicht dazu. Andreas Latzko starb 1943 im niederländischen Exil, und seine Witwe, die georgische Autorin Stella Latzko-Otaroff, schrieb einen zweiten Band der „Lebensfahrt“, der sich vom ersten deutlich unterscheidet. Während Latzko den Episoden seines Lebens nur Bedeutung beimisst, wenn sie eine allgemeingültige Einsicht beweisen, berichtet die Witwe chronikalisch nüchtern über die Zwischenkriegszeit und damit von Jahren der demokratischen, politisch-literarischen Arbeit. Einen breiten Raum nimmt die Schilderung der Begegnungen mit anderen Schriftstellern und Intellektuellen ein. Latzko war nach eigenem Bekunden ein „Stubenhocker“, pflegte aber doch internationale Kontakte mit der linksbürgerlichen, republikanischen Intelligenz: Überzeugte Europäer wie Romain Rolland, Stefan Zweig, Heinrich Mann zählten zu seinen gleichgesinnten Gesprächs- und Brieffreunden.

Die von Georg B. Deutsch herausgegebene und mit einem sachkundigen Nachwort versehene Edition dieser „Lebensfahrt“ enthält zahlreiche Druckfehler – darunter auch erheiternde wie „eine mit Schinken belebte Butterstulle“ (S. 33) oder „im Theater gemeinte Tränen“ (S. 66) – ist aber dennoch verdienstvoll. Bisher war das Buch nur in niederländischer Übersetzung unter dem Titel „Levensreis“ erhältlich, jetzt ist es erstmals in der Sprache zugänglich, die Andreas Latzko schrieb. Er ist in der Zeit des Nationalitätenkonflikts aufgewachsen, in der das Deutsche den Ungarn als Okkupantensprache verhasst war. In seiner Herkunftswelt wäre es also opportun gewesen, sich des Ungarischen zu bedienen, aber, so Latzko, der das Opportune immer abgelehnt hat: „Als Sohn einer Wienerin, die erst nach ihrer Verheiratung das Studium der Landessprache begonnen, und trotz Fleiß und Ausdauer nie ganz erlernt hatte, dürfte ich im wörtlichen Sinne des Wortes Deutsch meine ‚Mutter’-Sprache nennen.“ (S. 32).

Latzkos „Lebensfahrt“ ist als fünfter Band der Reihe „Forum: Österreich“ erschienen, die eine wahrhaft europäische Unternehmung ist. Die in rot-weiß-rot gehaltenen Bände, die sich mit österreichischen Fragestellungen befassen, erscheinen – zum Teil zweisprachig – in einem Berliner Verlag und werden herausgegeben von Jacques Lajarrige aus Toulouse und Helga Mitterbauer aus Brüssel. Die Titel der vier bisher erschienenen Bände seien abschließend genannt:
Jacques Lajarrige (Hrsg.): Soma Morgenstern – Von Galizien ins amerikanische Exil. Soma Morgenstern – De la Galicie à l’exil américain“ (2015).
Marc Lacheny: Littérature „d’en haut“, littérature „d’en bas“? La dramaturgie canonique allemande et le théâtre populaire viennois de Stranitzky à Nestroy (2016).
Stéphane Pesnel / Erika Tunner / Heinz Lunzer / Victoria Lunzer-Talos (Hrsg.): Joseph Roth – Städtebilder. Zur Poetik, Philologie und Interpretation von Stadtdarstellungen aus den 1920er und 1930er Jahren (2016).
Jessica Ortner: Poetologie „nach Auschwitz“. Narratologie, Semantik und sekundäre Zeugenschaft in Elfriede Jelineks Roman „Die Kinder der Toten“ (2016).

Andreas Latzko, Stella Latzko-Otaroff Lebensfahrt
Erinnerungen.
Hg.: Georg B. Deutsch.
Forum: Österreich Band 5.
Berlin: Frank & Timme, 2017.
365 S.; geb.
ISBN 978-3-7329-0354-2.

Rezension vom 12.02.2018

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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