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Leben zwischen den Seiten

Corinna Soria

// Rezension von Petra Nachbaur

Das Leben ist ein Hit. Kaum je wird bewußt, was dieser Satz, nimmt man den Hit beim Wort, auch noch bedeuten kann. Nichts Verheißungsvolles nämlich, nichts Begeistertes oder inflationär Beteuertes, sondern eine bitter zynische Feststellung. Ein Schlag kann das Leben auch sein, und Schlag auf Schlag kann das gehen, und das muß nicht unmittelbar mit Gewalt zusammenhängen, zumindest nicht oder nicht nur mit der vordergründigen, ohrfeigenden, sondern auch mit der strukturellen, komplizierten.

In ihrem ersten Roman erzählt Corinna Soria die Geschichte zweier Außenseiter, die hier nicht durch Zufall oder „Schicksal“ zueinander finden, sondern immer schon zueinander gehören, aneinander geheftet sind durch das enge Band zwischen Mutter und Kind. Trotz dieser basalen Zusammengehörigkeit gibt es im Laufe des Romans mehr als ein einziges „Kennenlernen“ zwischen Mutter und Tochter, das erste zu Beginn des Buches, als das Kind im Volksschulalter seine Mutter wiedersieht (oder überhaupt zum ersten Mal bewußt sieht) und von nun an bei ihr leben darf – unklar ist noch, wo es seine ersten Lebensjahre verbracht hat und weshalb nicht bei der Mutter.

Das Zusammenleben dieser beiden Menschen gestaltet sich schwierig. Das liegt vor allem an der psychischen Verfassung der Mutter, die kaum ihrer Rolle gerecht werden kann. Sorgepflicht, Verantwortung, Aufsicht, Erziehung sind Kategorien, die nicht greifen können angesichts eines Menschen, der sich in seinen eigenen Obsessionen nicht zurechtfindet und auch ein Kind, sein Kind, nur mit Mühe davon fernhalten kann, es wieder und wieder mit hineinreißt.

Oft wirken die beiden wie zwei Mädchen, ein versponnenes Kind und eine spinnerte Erwachsene, die sich einander annähern im Alter, sich aufeinander zu bewegen, einander manchmal erschreckend ähnlich, störrisch, kein starkes Team, wie es uns Filme über solche Bündnisse Marke Zwei gegen den Rest der Welt gerne glauben machen, ein schwaches Team, ein schwaches Team. Ein Team, dem schon die elementare Stärkung des Essens verweigert wird vom Wahn – packend die Schilderungen, wie Mutter und Kind aufs Amt ziehen um Notstandshilfe zu bekommen, Bargeld, das in Nahrung, Essen, – Lebensmittel! investiert wird, die sie dann nach Hause schleppen und dort in den Müll werfen, weil die Mutter zu erkennen meint, daß alles vergiftet sei.

Soria verdeutlicht, welche Auswirkungen diese Paranoia auf das konkrete Zusammenleben der beiden Menschen hat, wie der Alltag kaum ein solcher zu nennen ist, da ihm jedes strukturierende Element fehlt. Dem Kind bleibt nur die Schule, und selbst dort wird es von der Mutter heimgesucht, und wird bald und immer stärker zur Verrufenen. Wahnsinn ist gefährlich, vor allem, wenn er nicht leidend und „arm“ und mitleidheischend daherkommt, sondern fordernd, unberechenbar, stur. Da sind sie bald überfordert, die „Christusmägde“ und „Christusbräute“, die das Leben der beiden säumen und nicht versäumen, in all ihrer Nächstenliebe wieder und wieder anklingen zu lassen, was es mit der Sünde und der Strafe auf sich hat.

So werden nicht nur die Auswirkungen der Verrücktheit und die Reaktionen darauf eindringlich geschildert, sondern im Laufe des Romans kommen mit zunehmendem Alter der Erzählerin auch immer stärker die Elemente zur Sprache, die mit auslösend oder verantwortlich gewesen sein könnten für die Geschichte und Biographie dieser Frau, von der zunächst kaum etwas bekannt ist, außer, daß sie ein Kind hat und Schübe von Geisteskrankheit.

Kurze Lichtblicke tun sich auf, wenn ein neuer Mensch, eine neue Beziehung, Bekanntschaft in das Leben der beiden tritt, doch sind diese nur von kurzer Dauer – die Mutter ist nicht zum Aushalten und die Tochter mit und wegen ihr nicht. Niemand hält durch in diesen kraftraubenden Konstellationen, so gesehen ist die Außenwelt noch schwächer als das Zweiergespann, und stark sind nur die institutionalisierten Vorstellungen von Ordnung, von Normalität und Normalisierung. An Sylvia Plaths Johnny Panic and the Bible of Dreams erinnernd, gibt es einen wahrhaft königlichen und gebieterischen „Rex“ in einem Lederetui, in das die Mutter hineinspricht und aus dem sie ihre Instruktionen erhält, manches auf makaber-komische Weise dem Kinderspiel ähnlich, nur daß es bitterer Ernst ist.

Die 161 Seiten starke „Erzählung“ ist in drei Abschnitte gegliedert. Teil eins begleitet die Beziehung zwischen Mutter und Kind aus der Perspektive der Kleinen bis zur ersten Katastrophe, der Einlieferung der Mutter in eine Nervenheilanstalt und der Übergabe des Kindes an Pflegeeltern. Der zweite Teil schildert die Lebensumstände bei der Familie Rauhbein, einfache Verhältnisse, viel Arbeit, viel Kirche, Kummer in der Schule, Außenseitertum. Die Mutter taucht wieder auf, ein neuer Versuch, versuchtes Zusammenleben, ein Versuch, miteinander und mit dem Leben auszukommen, ein neues Scheitern, ein Rückfall. Teil drei setzt ein mit der Verweigerung der Pflegefamilie, ihre Pflegetochter abermals aufzunehmen, und beschreibt ihre Zeit in einem Klosterinternat, wieder ein Sommer mit der Mutter, dritter Anlauf, wieder scheiternd, diesmal die Tochter schon in einem Alter, in dem sie sich bei der Internierung als Mittäterin an der Mutter empfindet und dennoch gezwungen ist, so zu handeln, ohne Unterstützung durch ein soziales Netz, ohne Unterstützung durch einen belanglosen und nicht belangbaren Vater, der nur allzu selten, und von der Tochter immer unlieber empfangen, auf Kürzestbesuche sich sehen läßt.

Nicht weinerlich, nicht sentimental wird diese intensive Beziehung zwischen Mutter und Kind geschildert, diese un- und außerordentliche Beziehung. Nie wird, was ja naheliegend wäre, die Waagschale so belegt, daß ein Ungleichgewicht zwischen irrer Mutter und verängstigtem Kind entsteht. Die Tochter ist oft ein wütendes, zorniges, erpresserisches Kind, ein Kind, das seiner Mutter in nichts nachsteht, wenn man die Rollenverteilung außer Acht läßt und Fragen von Verantwortlichkeit. Wie in Aglaia Veteranijs „Warum das Kind in der Polenta kocht“, beschreibt Soria die Sorge eines Kindes, eines kleinen Mädchens um seine Mutter, die bei Veteranij Zirkusartistin ist, bei Soria auf den dünnen und hoch gespannten Seilen des Wahnsinns dahinbalanziert, ohne sich zu kümmern, ohne sich kümmern zu können, wen ihr Fall noch mit in die Tiefe reißen wird.

Schon sehr jung entdeckt das Kind die Rückzugswelt Buch, wobei vor allem die Großelternliteratur zum rettenden Strohhalm wird, ergänzt durch Karl May und eine Prise Walt Disney. Wichtiger aber ist die Lektüre von Friedrich Rückert: Der Satz „Ich bin der Welt abhandengekommen“ wird oft, beinahe leitmotivisch zitiert. Dieses Gedicht endet mit der Zeile „Ich leb in mir und meinem Himmel“, und dies scheint stärker und stärker die Überlebensdevise der Tochter zu werden, die auf sich selbst gestellt ist und auch dem christlichen Himmel immer weniger abgewinnen kann, angesichts der strengen und engen Verständnislosigkeit des omnipräsenten Provinzial-Katholizismus der frühen sechziger und siebziger Jahre.

„Freiheit, bist du zwischen den Seiten?“ (S. 51), fragt sich das Mädchen schon früh, lesend; das Mädchen, das mit zunehmendem Alter immer mehr zwischen die Seiten und zwischen die Stühle gerät, hin- und hergerissen zwischen der Welt ihrer Mutter und der Welt der Normalität und der Normalisierung oder zwischen diesen beiden Seiten in ihr selbst. Aus dieser Spannung nährt sich ein Verhältnis zwischen zwei Menschen, die nicht voneinander loskommen, was das Merkmal so mancher fatalen Beziehung ist. Daß es sich um ein noch extremeres Nicht-voneinander-los-können handelt, wenn die Mutter nur ein Kind hat und das Kind nur einen Elternteil, zu dem es sich Distanz nur mit Mühe und nur mit Gewissensbissen erarbeiten kann, beschreibt Corinna Soria in glaubwürdiger und niemals effekthascherischer, in exakter und niemals voyeuristischer Sprache.

Bei all der schrecklichen Thematik, bei der nicht reißerischen, aber harten und direkten Benennung von Krankheit und Wahnsinn samt den sie umgebenden potenzierenden Faktoren und ihren Wirkungen, bei aller Gesellschaftskritik, die in diesem Text zum Tragen kommt, ist der Roman doch auch in der genauen Beschreibung, in der nichts beschönigenden Darstellung der Dinge eine Liebeserklärung. An eine Frau, die noch im Wahnsinn ein Maß an Würde und Stärke bewahrt, die halsstarrig ist und eigensinnig, und deren selten aufblitzendes, gewinnendes Lächeln die Tochter noch nach Jahren des Schmerzes zu verführen vermag.

Leben zwischen den Seiten.
Erzählung.
Klagenfurt/Celovec: Wieser, 2000.
161 Seiten, broschiert.
ISBN 3-85129-327-4.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 25.10.2000

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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