#Prosa

Lauter gute Kritiken

Alfred Polgar

// Rezension von Helmut Sturm

Nach „Alfred Polgar. Das große Lesebuch“ hat Harry Rowohlt für Kein & Aber nun einen zweiten Band aus den Texten des 1873 in Wien als Sohn eines slowakischen Musiklehrers und einer aus Ungarn stammenden Mutter geborenen Vertreters der sogenannten Wiener Caféhaus-Literatur zusammengestellt. Es handelt sich dabei um Beiträge für das Feuilleton, die mit wenigen Ausnahmen zwischen 1904 und 1937 erstveröffentlicht wurden. Harry Rowohlt bevorzugt allerdings häufig als Textvorlage eine spätere Fassung. Die ursprünglichen Erscheinungsorte sind leider nicht angegeben, dafür enthält der Band eine recht ausführliche Zeittafel zum Leben Alfred Polgars, der bis zum 23. September 1914 offiziell Polak hieß.

Den vier Abschnitten „Literarisches Leben“, „Film“, „Theater“ und „Sätze und Grundsätze“ vorangestellt ist ein „Interview mit Alfred Polgar“ aus der „Literarischen Welt“ (10/1926) von Robert Musil, der wie Polgar während des Ersten Weltkrieges dem Kriegspressequartier zugeteilt war. Musil beginnt mit dem wunderbar ironischen Satz: „Eines Tages sagte ich mir, das Interview ist die Kunstform unserer Zeit; denn das großkapitalistisch Schöne am Interview ist, daß der Interviewte die ganze geistige Arbeit hat und nichts dafür bekommt, während der Interviewer eigentlich nichts tut, aber dafür honoriert wird.“ (So geht es tatsächlich dem Rezensenten, wenn er wie in diesem Fall das Glück hat, ein Buch voller gescheiter Sätze in der Hand zu haben.) Musil bringt dann unnachahmlich auf den Punkt, was für ihn Polgar bedeutet: ein Kritiker, mit „Feingefühl für Fälschungen“, unbeeinflusst vom (Wiener) Kulturbetrieb, der in einer „schönen und bequemen Strapazprosa“ die Dinge vorbei lässt, um ihnen eins von hinten zu versetzen, wodurch sie zerfallen wie auseinandergenommene Spielzeuge. Es gibt in dem Interview nur zwei kurze Polgar-Zitate, das zweite: „Ich habe nur eine idée fixe: es gibt nur eine idée flexible!“.

Polgar lesen ermüdet nicht. Als gelernter Journalist überfordert er sein Publikum nicht, sondern überrascht es. Er hat Witz und gibt ungewöhnliche Ratschläge: „Ich sage Ihnen, gehen Sie ins Kino, wenn Sie wissen wollen, was Paralyse ist.“ Höchst interessant, wie Alfred Polgar den Übergang zum Tonfilm beschreibt. Er zeigt, wie das neue Medium für den Rezipienten nicht nur Gewinn bedeutet, ihm auch die Freiheit der Fantasie beschränkt. Bemerkenswert die Aktualität (oder gar Zeitlosigkeit?) vieler Beobachtungen. So hat er eine Erklärung für den Erfolg des „Grotesken Films“, die auf viele Blockbuster von heute zutreffen könnte: “ Warum erhöht er die Lebensfreude? Nicht nur, weil er komisch ist, sondern auch, weil er revolutionär ist, weil er eine höhere Gerechtigkeit etabliert. Sein Motto könnte heißen: ‚In tyrannos‘. / Des Menschen boshafteste Feinde sind: die Menschen und die Naturgesetze. An beiden übt der Groteske Film Vergeltung. Alle Spieße dreht er um.“

Der Kritiker, der in einem Atemzug mit den Großen seiner Zunft genannt wird, weiß über seinen Beruf Bescheid. „Ihren einzig unbestreitbar guten Sinn hat die Buchkritik für den Buchkritiker. Sie gibt ihm Gelegenheit, durch Feststellen von Minderwertigkeiten anderer seinen eigenen Minderwertigkeits-Gram zu besänftigen und in der Verdunklung fremden Geistes das Licht des eigenen leuchten zu lassen.“ Wie schön, dass Alfred Polgar selbst sein Pauschalurteil ad absurdum führt.
Polgar arbeitet durchaus – wohl auch dem Journalismus geschuldet – ökonomisch. So kommt es schon vor, dass man ein und dieselbe Idee in verschiedenen Feuilletons beinahe Wort für Wort wieder antrifft. Solche Redundanzen vermindern aber keineswegs die Lesefreude, was Polgar für wieder verwertbar erachtete, ist allemal auch in der Wiederholung willkommen.

Alfred Polgar Lauter guter Kritiken
Kritiken.
Zusammengetragen von Harry Rowohlt.
Mit einem Interview von Robert Musil.
Zürich: Kein & Aber, 2006.
301 S.; geb.
ISBN 3-0369-5167-9.

Rezension vom 20.06.2006

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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