#Anthologie

lauf wenn du kannst

Gunter Falk

// Rezension von Kurt Bartsch

Als 1975 unter dem Titel Wie die Grazer auszogen, die Literatur zu erobern eine erste Bilanz über den Aufbruch der Literatur aus dem Umkreis des Forum Stadtpark Graz und seiner Zeitschrift „manuskripte“ gezogen wurde, wunderte sich der Kritiker von „Times Literary Supplement“, von einem Gunter Falk, „a virtually unknown figure“, zu lesen. Das stand im Widerspruch dazu, dass der Autor im lokalen Bereich gewissermaßen Kultstatus als der Grazer Avantgardist und überregional beziehungsweise international bei Insidern der sogenannten experimentellen Literatur (wie Jörg Drews oder Klaus Ramm) großes Ansehen genoss.

Dreißig Jahre später hat sich daran wenig geändert. Falk ist über Graz hinaus kaum bekannt. Das hat mehrere Gründe: Am frühen Tod des Autors, er ist 1983 erst 41-jährig verstorben, wird es nicht gelegen haben, ein solcher kann bekanntlich zur Legendenwirkung beitragen; entscheidend sind die Nichtpräsenz seiner Texte und die geringe Beachtung durch die Literaturwissenschaft, speziell die Literaturgeschichtsschreibung – beides zweifellos aber auch Folge einer gewissen Ratlosigkeit gegenüber einem schwer Einzuordnenden.

Falk war zwar der Erste aus der „Grazer Gruppe“, der ein Buch veröffentlicht hat (Der Pfau ist ein stolzes Tier. Bedeutungsmodelle, bei Hagar 1965), aber zu Lebzeiten hat er es auch nur mehr zu zwei weiteren Büchern gebracht: Der Würfel in manchen Sätzen. Alle Texte 1961-1977 in zur Chronologie umgekehrter Reihenfolge (1977, darin die Texte aus Der Pfau integriert) und Die dunkle Seite des Würfels. Alle Texte 1977-1983 in zur Chronologie umgekehrter Reihenfolge (1983). Und diese beiden im kleinen Verlag von Klaus Ramm erschienenen Bände sind zwar nach wie vor lieferbar, aber: wer weiß schon davon. Ob die nun vorliegende Edition den Bekanntheitsgrad Falks wird steigern können, bleibe dahingestellt.

In den gängigen Literaturgeschichten ist Falk kaum einmal erwähnt. Ausnahmen sind die von Athenäum (1984) und Hanser (1992), in denen er auch durchaus angemessen charakterisiert wird, in letztgenannter allerdings im Appendix „Österreichische Literatur“ als einer der „Außenseiter“ neben Reinhard Priessnitz und Hermann Schürrer, während eine Bachmann, ein Bernhard oder ein Handke u. a. die Ehre haben, innerhalb des Hauptteils über die Literatur der Bundesrepublik Beachtung zu finden. Es gibt auch kaum literaturwissenschaftliche Einzelstudien zu Falk. Nichts daran zu ändern vermocht hat das im Jahr 2000 im Droschl-Verlag erschienene DOSSIER extra über ihn, das außer persönlichen Erinnerungen von Freunden (Wolfgang Bauer, Günter Eichberger, Dieter Glawischnig, Wilhelm Hengstler, Alfred Kolleritsch) auch mehrere kluge und anregende literaturwissenschaftliche Beiträge versammelt.

Der promovierte und habilitierte Soziologe Falk war ein Grenzgänger, er war in Zeiten heftiger ideologischer Streitigkeiten ein entschiedener Gegner aller Ideologien, legte in seinem Text Credo vom Anfang der siebziger Jahre folgerichtig ein umfassendes, sich selbst einschließendes Nichtglaubensbekenntnis ab. Mit der „Außenseiter“-Zuschreibung (wie in der Hanser-Literaturgeschichte) hätte Falk selbst zweifellos gut leben können, hat er sich doch auch mehrmals – u. a. im Essay Denk-Male oder Felder des Handelns (in denen auch Kornblumen blühn). 11 Thesen zur Analyse und Kritik der herrschenden Kultur – entschieden gegen „Repräsentativkultur“ und für die zu seiner Zeit noch wenig geschätzte Populär- und Subkultur ausgesprochen. Er war eben ein Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Poesie, zwischen elitärem avantgardistischem Anspruch und Neigung zu Pop, zwischen provokativen Aktionen unter Alkoholeinfluss und wachem Realitätssinn, wobei die Grenzen hier wie dort alles andere als scharf gezogen sind. Vielmehr schlägt sich theoriegeleitetes Interesse, am (Rollen-)Spiel etwa, in der Dichtung (und auch in der Wirkung auf den Dichterfreund Wolfgang Bauer) nieder, umgekehrt eigene existentielle Erfahrung und Hang zum Anarchischen in seiner schwerpunktmäßig auf Spieltheorie und Devianzen ausgerichteten soziologischen Forschung.
Falk selbst hat sein Grenzgängertum sehr treffend zu benennen gewusst in „seine[r] Vier-Welten-Theorie“, an die sich Eichberger im DOSSIER erinnert: „In der ersten Welt sei er Soziologe, in der zweiten Welt Dichter, die dritte sei die des Rausches – und über die vierte Welt könne man nichts sagen. (Das sogenannte Mystische wohl, das sich – nach Wittgenstein – ‚zeigt‘.)“
All das ist aufgeladen mit einer Spannung zwischen anarchischen Zügen und der Suche nach einer Halt gebenden wissenschaftlichen Theorie oder auch einer strengen poetischen Form, wie sich das beispielsweise in zahlreichen Haikus niederschlägt, die eben eine strenge Form vorgeben und doch über sich hinausdrängen. Und auch das von Wolfgang Bauer dramatisch umgesetzte „Free Schach“ zeichnet sich durch ein widersprüchliches Außerkraftsetzen der Schachregeln einerseits und stillschweigend vorausgesetzte Regelhaftigkeit aus.

Die Flüchtigkeit des Spiels, das happening, die Aktion, das Improvisatorische des Jazz, das war Falk wichtig, jedenfalls in den sechziger und frühen siebziger Jahren. Legendär sind heute noch in Graz seine Auftritte in der sogenannten „Dunkelkammer“ des Forum Stadtpark, die Verkündigung des mit Wolfgang Bauer verfassten Manifest[s] der Happy Art & Attitude (1965), seine letzte Lesung gemeinsam mit der Jazz-Band „Neighbours“ (Mitschnitt: Texte und Jazz, Doppel-CD, Beilage zum DOSSIER) wenige Tage vor seinem Tod, in der er (in seiner Jugend selbst Schlagzeuger) den Musikern durch seine Spontaneität das Letzte abverlangte.

Das Flüchtige und doch strengen Maßstäben Folgende, das den Künstler Gunter Falk ausmacht, kann in einer Ausgabe von Texten nur unzureichend erfasst werden, aber es ist den Texten dieses Autors unverkennbar eingeschrieben. Schon die Titel seiner beiden bei Ramm veröffentlichten Bücher verweisen – und das darf durchaus poetologisch verstanden werden – auf das Aleatorische, die Offenheit für das Unerwartete, das Unvorhersehbare (der gewürfelten Zahl) trotz des Geregelten (des Würfelns).
Das Spielerische, das widersprüchliche Wirklichkeitsbezüge und so utopische Ausrichtung zulässt, steht im Vordergrund in Falks Schaffen, der Begriff des „Experimentellen“ drängt sich auf, bedürfte aber einer genaueren Bestimmung (vgl. Thomas Eder im DOSSIER). Reinhard Priessnitz und Mechthild Rausch haben aus ihrer Abrechnung mit der „postexperimentellen“ Literatur der Grazer (in Wie die Grazer auszogen…) Gunter Falk ausgenommen. Der Versuch der Vermittlung von experimenteller Haltung und narrativer Darstellung existentieller Probleme bei Wolfgang Bauer, Barbara Frischmuth, Peter Handke u. a. stellt ihrer Meinung zufolge einen Rückschritt dar, erweist sich als in sich widersprüchlich und unlogisch. Falk jedoch gehe nicht in diese Falle.
Zweifellos orientiert er sich am entschiedensten an den an die Avantgarde anschließenden sprachoperativen Unternehmungen der Wiener Gruppe, speziell Oswald Wieners, finden sich tatsächlich bei ihm theoriegeleitete sprachliche Versuchsanordnungen, greift er in die Syntax und Morphologie, in verschiedene Textsortenstrategien etc. ein, arbeitet mit Repetitionen und Permutationen, spielt etwa schon im ersten seiner in den „manuskripten“ veröffentlichten Texte (Heft 8 von 1963), in Das 19. Kapitel, mit den (selbstverständlich enttäuschten) Erwartungen der Leserschaft an narrative Zusammenhänge und entzündet ein intertextuelles Feuerwerk (mit Bezügen von der Bibel über klassische Texte bis Benn, Brecht, aber auch Popliteratur, Western, Science Fiction und Comics), das ebenso wie der Titel in die Irre führt. So wie es kein 1. bis 18. und kein 20. oder weitere Kapitel gibt, so wenig verweisen die intertextuellen Bezüge auf irgendeinen Sinn außerhalb des Verfahrens, das solcherart bewusst gemacht wird. Ähnliches lässt sich von der verwirrenden Montage Aus dem nachgelassenen Manuskript Bill. Eine Handlung oder dem jetztzeitschlager sagen.

Ganz ohne „existentielle“ Momente kommen – entgegen Priessnitz/Rausch – auch Falks Dichtungen nicht aus. Abgesehen von Texten, die das soziologische oder auch das politische Interesse des Autors erkennen lassen – sein uhrturmlied (der Uhrturm ist das Wahrzeichen der Stadt Graz, die sich rühmte, Hitlers „Stadt der Volkserhebung“ zu sein) intonierte er nicht zufällig nach dem Horst-Wessel-Lied -, abgesehen auch von Texten, in denen eine deutlich autobiographische Züge tragende Figur „Franz“ erscheint und das Leiden an der Existenz allgemein (die leiden des alten Franz) oder an der selbstzerstörerischen Neigung zum Alkoholismus (Hans im Glück, Franz beim Bier) thematisiert werden, finden sich zahlreiche Gedichte, speziell auch Haikus, in denen die Unauflösbarkeit von Antagonismen und zugleich die Sehnsucht nach einem – vielleicht unzulänglich so zu nennenden – utopisch Anderen eingefangen sind (etwa im Zyklus 3 jahreszeiten oder in coda).

Diese Beobachtung lässt es wünschenswert erscheinen, sich mit der Definition des „Experimentellen“ bei Falk näher zu befassen. Thomas Eder hat (im DOSSIER) schon einen anregenden Anfang gemacht und dabei längere Textpassagen auf einen im Nachlass am Österreichischen Literaturarchiv in Wien erhaltenen Vortrag Falks über Experimentelle Literatur zitiert. Unverständlich, dass diese peotologisch zentralen Aussagen des Autors in der vorliegenden Ausgabe nicht enthalten sind. Es stimmt schon, dass das essayistische Werk Falks in seiner Gänze „einen zweiten Band“ (Eichberger) füllen würde, es stellt sich aber die Frage, ob die Ausführungen über die experimentelle Literatur nicht wichtiger sind als einer der drei Essays, für deren Aufnahme sich Eichberger entschlossen hat und die zudem – in den „manuskripten“ veröffentlicht – leichter zugänglich wären als der angesprochene Nachlasstext.

Die editorischen Prinzipien sind überhaupt nicht leicht zu durchschauen. Der Herausgeber besticht durch Bescheidenheit, begnügt sich, wiewohl sein Beitrag zum DOSSIER erkennen lässt, dass er einiges zu sagen hätte, ja hat, mit einer Editorische[n] Notiz von knapp 15 Zeilen. Immerhin informiert er darüber, dass der Untertitel der Ausgabe Alle Texte ein falsches Versprechen abgibt, relativiert zu „fast alle“, mit der Begründung, „einer historisch-kritischen Gesamtausgaben“ nicht vorgreifen zu wollen.
Nun, eine solche war nicht zu erwarten, aber man wüsste zum Beispiel doch gerne, warum das Manifest der Happy Art & Attitude, das Falk, wie gesagt, gemeinsam mit Wolfgang Bauer verfasst hat, nicht aufgenommen ist. Zugegeben, es ist in der Bauer-Werkausgabe (bei Droschl) greifbar. Aber soll es nur Bauer zugeschrieben werden, obwohl es mit seinen Bezügen auf Friedrich Schillers Spieltheorie und Einstimmen auf Herbert Marcuses Forderung nach Durchsetzung des Lustprinzips deutlich die Handschrift Falks trägt? Warum sind zwar drei Nachlass-Gedichte aus dem Grazer Nabl-Institut aufgenommen, nicht aber der Zyklus Concrete Poesiefür anfänger aus dem Nachlass am Österreichischen Literaturarchiv? Beide sind vorabgedruckt im DOSSIER, aber gerade die Concrete Poesie für anfänger ist poetologisch wichtig. Und man wüsste doch ganz gerne etwas über die Nachlässe (wo, welche Umfänge) und vielleicht auch einiges mehr über Entstehungsdaten (oder deren Nicht-Eruierbarkeit), wüsste gerne, was über die beiden Würfel-Bücher hinaus, die rund zwei Drittel der vorliegenden Ausgabe ausmachen, schon einmal und wann und wo veröffentlicht wurde. Dann ließe sich erst richtig abschätzen, wie viel die Neuedition wert ist.

Gunter Falk lauf wenn du kannst
Alle Texte.
Hg.: Günter Eichberger.
Klagenfurt, Wien: Ritter, 2006.
415 S.; brosch.
ISBN 3-85415-389-9

Rezension vom 26.07.2006

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.