#Roman

Land der roten Steine

Walter Kappacher

// Rezension von Alexander Kluy

Es macht die Besonderheit vielleicht aller Bücher Walter Kappachers aus, vom ersten Satz an einen eigenen, einen besonderen Ton anzustimmen. Einen Ton, der gar nicht so besonders daherkommt, sondern eher unauffällig anmutet, wenn auch nie schlicht; der aber in seiner Temperiertheit subtil ist und dem ein spezifisches Eigengewicht innewohnt.
So verhält es sich auch mit seinem jüngsten Roman, mit dem er nach mehreren Büchern im Wiener Verlagshaus Deuticke und einem Intermezzo beim Residenz Verlag nunmehr im Hauptprogramm des Carl Hanser Verlags aufscheint. Dieses in Privatbesitz befindliche Haus hat sich ja in den letzten 25 Jahren durch Akquisitionen und ein sehr erfolgreiches, zugleich qualitativ hochstehendes Programm zum Großverlag entwickelt.

Land der roten Steine ist dabei gar nicht so verschieden von Kappachers Roman „Der Fliegenpalast“, der 2009 erschien und Auslöser war, diesem stillen, sich dem Literaturbetrieb und seinen Regularien und Kategorien weitgehend erfolgreich entziehenden Autor aus Obertrum nahe Salzburg den Georg-Büchner-Preis zuzusprechen, im deutschsprachigen Raum die wohl bedeutendste literarische Auszeichnung. War es im Vorgängerband, in Bad Fusch im Pinzgau, eine Figur namens H., durch die unschwer Hugo von Hofmannsthal hindurchschien, welche eine Krisis zu bewältigen hatte, so ist es nun ein Arzt, Wessely mit Namen, aus Bad Gastein. Man begegnet ihm kurz nach der Pensionierung. Jahrzehntelang hat er in seinem Heimatort als praktischer Arzt ordiniert, seine Praxis war untergebracht im Erdgeschoss des Hotels des Vaters, der infolgedessen die Rezeption in den ersten Stock verlegt hatte. Er hat eine Tochter, die sich einer sehr kurzen Beziehung zu einer Frau verdankt und die nach der Trennung von ihrem Lebensgefährten mit ihrer kleinen Tochter, Wesselys Enkelin, die er noch nie gesehen hat, wieder in Montréal lebt.
Eine Zäsur ist die Pensionierung für den allein lebenden Wessely jedoch nicht.  Jedenfalls nicht im allgemeinen Sinne wie bei Gleichaltrigen, die Wessely von früher kennt und die ihm ihr Leid klagen, dass mit dem Altenteil auch die Krankheiten auftauchten und all die lang gehegten Pläne, Absichten und Wünsche sich in Nichts auflösten. Wessely hat Pläne, er reist, vor allem auch, weil er allein ist. Die Mutter, seine Ex-Frau, ein guter Freund sowie sein Vater sind verstorben. Er reist auf den Spuren einer älteren Reise in den Südwesten der USA, in das Gebiet der so genannten Four Corners, dorthin, wo die Bundesstaaten Arizona, Utah, New Mexico und Colorado zusammenstoßen, in das geologisch faszinierende, weil rätselhafte und unirdische Canyon-Land. Am bekanntesten dort ist der Grand Canyon, doch diesen lässt er links liegen und heuert einen gleich alten Guide an, um ihn vier Tage lang durch das „Land of Standing Rocks“ zu geleiten. Fast mystische Eindrücke vom äußersten Rand der Existenz und der Klarheit gewinnt er dort, fast einen ganzen Tag verbringt er beispielsweise fast allein, weil der einheimische Führer zu Fuß zu einem Ort aufbricht, an dem vor Jahren seinen besten Freund der Tod ereilt hatte, und erst mit großer Verspätung zurückkehrt.

Zurück in Bad Gastein – und dies nimmt den letzten der drei Teile dieses schmalen Prosabandes ein, überschrieben „La vita breve“, das kurze Leben, erfolgt nicht die radikale Lebenskursänderung, die eigentlich von Wessely ins Auge gefasst worden war. Er wandert viel, er ordert Bücher von Meister Eckhart und Goethe, er plant seine Bibliothek neu zu ordnen, Musik zu hören, und ist doch zu unruhig für all dies. Deshalb, es sind die letzten Monate des Jahres, geht er wandern. Er schaut. Und ist allein. Und spürt das Zusammenschnurren der Lebenszeit, weicht aber einschneidenden Veränderungen geschmeidig aus, etwa dem Verkauf des Hotelgebäudes, in dem er lediglich einige Räume bewohnt, und einem eventuellen Umzug. Erinnerungen tauchen immer wieder flackernd auf, an die Jugend, den Vater, mit dem er lebenslang nicht auskam, weil sich dieser in ihm die Nachfolge in der Hotelleitung wünschte, der sich Wessely durch sein Medizinstudium in Innsbruck entzog (und dann doch nicht ganz, weil er zurückkehrte und seine Ordination im Parterre einrichtete). An spätjugendliche Vorhaben des literarischen Schreibens kann er ebenfalls nicht anknüpfen, die Versuche, die elementaren Eindrücke der USA-Reise auf Papier zu bannen, sind in seinen Augen unzureichend, so dass auch dies versandet.
Selbst als bereits Schnee liegt, unternimmt Wessely immer noch seine Wanderungen. Doch einem dramatischen Finale entzieht Walter Kappacher seinen Protagonisten geschickt. Denn er endet keineswegs am Ende des Jahreskreises im Schnee, allein, irgendwo im Gebirge. Vielmehr sieht man Wessely darüber räsonnieren – es ist der Silvestertag und er in einem Gasthof angekommen –, dass die physische Erschöpfung des Gehens ihm zumindest so viel Schlaf schenke, dass er den Lärm der Raketen und des Feuerwerks nicht hören möge.

Bei der leichten und leicht zu lesenden Tonlage darf nicht die raffinierte Konstruktion aus dem Blick geraten, und der Reichtum an versteckten Verweisen. Ist doch Kappacher ein hoch bewusster Erzähler. Dies setzt mit den an Dante gemahnenden Kapitelüberschriften „Vita nuova“, „De vita beata“ und „La vita breve“ ein und reicht bis zu Büchern, die Wessely in die von Kappacher mit wortgewaltiger Suggestionskraft beschriebene Anderswelt des Canyon-Lands begleiten, zu Edward Abbeys Wüstenmeditation „Desert solitaire“ – skandalöserweise liegt eben dieses Buch bis heute nicht in deutscher Übersetzung vor – und eine Monografie über Everett Ruess, einen wagemutigen Abenteurer, der in den 1930er Jahren im „Land of Standing Rocks“ verschollen ging. Latent ergänzt wird das Binnenliterarische durch den Aspekt des Sehens und Erkennens, besser: Erkennenwollens, ein Motiv, das beim leidenschaftlichen Fotografen Kappacher, der jüngst selber einen zweiten Band mit Fotografien veröffentlichte, keineswegs verwundert, ganz im Gegenteil eher akademischen Studien über die Wechselwirkung von Sehen und Beschreiben in seinem Werk reiche Nahrung geben dürfte.

Was Walter Kappacher, diesen Sehnsuchtsmeister der geminderten Aufregung interessiert, ist nicht das große Abenteuer, nicht das gigantische Staunen über Überlebensgroßes. Es sind vielmehr die scheinbaren, übersehenen Petitessen der Selbsterkenntnis, der Selbstentzifferung der Gefühls- und Gemengelagen, es sind die ganz normalen Binnenleidenschaften, die aber an keiner Stelle von anthropologischer Durchschnittlichkeit sind. Hierfür findet er einen exakten, sympathetischen Beschreibungsstil, der tief reicht und dabei in leichthändiger En-passant-Manier vieles aktivierend berührt. Dabei geht er, wie eben auch in „Der Fliegenpalast“, mit sanfter Dezenz vor und mit präzis abgewogenem Respekt. Die Figur des Dr. med. Wessely wird nicht analytisch zergliedert, sondern er erscheint vielmehr menschlich, überaus menschlich in seinen Unzulänglichkeiten, seinen Schwächen, seiner Glückssuche, seinen Ausweichmanövern auf dem Weg zu einem sinnvollen, erfüllten, glücklichen Leben. Vielleicht schafft momentan niemand in der deutschsprachigen Literatur dies so weitherzig und mit wärmender Klugheit zu schildern wie Walter Kappacher.

Walter Kappacher Land der roten Steine
Roman.
München, Wien: Hanser, 2012.
160 S.; geb.
ISBN 978-3-446-23861-9.

Rezension vom 22.03.2012

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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