#Anthologie

Kunst-Stücke

Gerhard Rühm

// Rezension von Anne M. Zauner

„Lieber Gott, laß mich einen berühmten Komponisten, Dichter und Maler werden.“ Gerhard Rühm, Avantgardist der fünfziger und sechziger Jahre, ist ein beinah würdiger alter Herr geworden, ein Klassiker der Moderne. Im Februar feierte er seinen 70. Geburtstag. Längst wird er mit Preisen ausgezeichnet, ist er Thema von Symposien und Ausstellungen.

Der junge, ehrgeizige Libro-Verlag, Tochter des Medien- und Handelskonzerns, würdigt den Künstler mit einem Best-of-Taschenbuch. Der Herausgeber Bernhard Kraller hat 27 Kurz- und Kürzesttexte aus fünf Jahrzehnten ausgewählt, darunter auch den Klassiker Das Fenster. Die meisten Texte, etwa zwei Drittel, stammen aus Rühms Frühwerk, aus der Zeit der „Wiener Gruppe“ (Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener).

Obwohl die fünf „Spinner“ in Österreich erst als Kuriosa bestaunt, geschmäht und belacht wurden, zählen ihre radikalen Sprachexperimente heute zu den wichtigen literarischen Entwicklungen der Nachkriegszeit. Ähnlich der programmatischen Sprachzertrümmerung der deutschen Nachkriegsliteraten mußte die „Wiener Gruppe“ die Muttersprache, die vergewaltigte und geschändete Sprache der Nazis und des Totalitarismus, erst zerstören, um ihre Poesie wiederzuentdecken. Die österreichischen Autoren entwickelten dabei eine neue Dimension: sie zerstörten mit unbändiger Lust und abgründigem tiefschwarzem Humor. Sie tanzten einen wahren Totentanz.

Gerhard Rühm ist Zeit seines Lebens ein Grenzgänger zwischen den Künsten geblieben. Intermediale Arbeit nennt er seinen Zugang zur Kunst. Er kreierte eigene Genres wie die „visuelle Musik“, „auditive Poesie“, die „gestische Zeichnung“, „bleistiftmusik“ oder das „dokumentarische Melodram“. Bei ihm nimmt der experimentelle Akt das künstlerische Ergebnis oft vorweg. Seine bislang ambitionierteste literarische Publikation, der Roman textall (1993), ist ein konzeptionell mutiges und spannendes Projekt, stößt jedoch schnell an die Grenze der Lesbarkeit.

Die Kunst-Stücke können dem experimentellen Anspruch Gerhard Rühms ebenfalls nur in Ansätzen gerecht werden. Längst hat er die traditionellen Grenzen des Buchs gesprengt. Denn die Seiten können nicht sprechen, singen und sich in Farbe auflösen; die Buchstaben sind an ihrem Platz festgenagelt. Gelegentlich fehlt Rühms Stimme – der Künstler ist ein kongenialer Interpret seiner Texte – um die Wortfetzen, Fragmente, Montagen und minimalistischen Arbeiten „lesbar“ zu machen.

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Der stärkste literarische Text der Sammlung ist Das Fenster (1955-56). Der Autor schildert darin die erregte und erregende Begegnung zwischen einem Mann und einer Frau.
Die Frau lehnt am Fenster, blickt auf die Straße, in den Himmel. Es ist ein Spätnachmittag. Plötzlich taucht eine Gestalt aus dem Dunkel des Zimmers und nähert sich der Frau am Fenster. Der Mann beginnt sie zu liebkosen.

Einen Augenblick lang ist der Erzähler versucht, seinen Nebenbuhler mit einem Federstrich auszuradieren. Aber er ist nicht Pygmalion. Ohne Liebhaber gäbe es keine Geliebte. Mit dem voyeuristischen Blick des eifersüchtigen Nebenbuhlers beobachtet er die wachsende Lust der beiden; minutiös schildert er den Liebesakt. Der Blick der Frau ist weiter auf die Straße und in den Himmel gerichtet.

Gerhard Rühm steigert souverän das Tempo. Selbst die Natur gerät aus den Fugen. Wolken ziehen auf. Es donnert. Am Höhepunkt öffnet der Himmel seine Schleusen.

Gerhard Rühm: „ich bin die falle der sprache“ (1986).

Kunst-Stücke. Texte aus fünf Jahrzehnten.
Herausgegeben von Bernhard Kraller.
Wien: Libro, 2000.
173 Seiten, broschiert.
ISBN 3-85494-103-X.

Rezension vom 02.08.2000

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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