#Sachbuch

Krimi-Orte im Wandel

Melanie Wigbers

// Rezension von Evelyne Polt-Heinzl

„Die knappe, artifizielle Kriminalnovelle braucht andere Räume als der unterhaltende Kriminalroman zu Beginn des 20. Jahrhunderts … Die verbreitete Annahme, der Ort in Kriminalerzählungen stelle eine weitgehend irrelevante und austauschbare Kulisse dar, konnte durch die Resultate der Arbeit nicht gestützt werden.“ (S. 243/4) Diese zwei Sätze aus Kapitel VI, genannt „Ausblick“, zeigen die ganze Problematik der vorliegenden Untersuchung. Der erste Satz ist nicht allzu überraschend, und der zweite geht von einer Annahme aus, die nicht wirklich verbreitet ist.

Melanie Wigbers Arbeit ist umsichtig und bemüht, das zeigen die umfangreiche Leseliste und auch der penible Aufbau mit einem System an Verweisen und Exkursen; nur der Bogen hält nicht, und die prinzipielle Fragestellung geben kein tragfähiges Gerüst ab. Da es sich bei Melanie Wigbers Arbeit um eine Dissertation an der Universität Hannover handelt, ist diese Kritik wohl in erster Linie an ihre Betreuerin Elisabeth Paefgen zu richten. Der Titel ließe erwarten, dass diese Untersuchung vom Trend zum allerorts diskutierten Typus Regional-Krimi ausgeht oder dort ankommt. Das ist mit Analysen zu Bernhard Schlink oder Jacques Berndorf irgendwie auch der Fall; aber das eigentlich spannende, nämlich die Frage nach den Implikationen dieser Entwicklung, wird nicht berührt. Warum begannen die Krimiautoren gerade in jüngster Vergangenheit ihre Kommissare in der Eiffel (oder im Weinviertel) anzusiedeln und weshalb sind die Leser von diesem Schauplatzwechsel so angetan?

Melanie Wigbers versucht in vier Abschnitten kaum Kompatibles zu vergleichen, sie untersucht „ausgewählte“ Kriminalerzählungen und -romane, wobei sich nicht erschließt und eigentlich auch nicht erschließen kann, nach welchen Kriterien hier ausgewählt wurde. Die Samples sind notgedrungen sehr klein, die Periodisierungen reichlich willkürlich, so dass eigentlich schon das Inhaltsverzeichnis die engen Grenzen der Erkenntnismöglichkeit bzw. die fast programmatische Unmöglichkeit von sinnvoll verallgemeinerbaren Aussagen zeigt, wie detailreich und stimmig einzelne Analysen auch sein mögen.

Es beginnt mit Kiminalnovellen des 19. Jahrhunderts, also E. T. A. Hoffmanns „Fäulein von Scuderi“, Droste-Hülshoffs „Judenbuche“ und dazu Fontanes „Unterm Birnbaum“. Der nächste Abschnitt umfasst kühn den Zeitraum 1900 bis 1965, Referenztexte sind Doderers „Ein Mord den jeder begeht“ (1938) sowie die Kriminalromane von Friedrich Glauser und Friedrich Dürrenmatt, dazwischengeschaltet sind zwei Exkurse zum englischen Rätsel- bzw. amerikanischen Großstadtkrimi und zu Georges Simenon. Der dritte Untersuchungszeitraum 1965 bis 1985 beschäftigt sich mit Berlin bei Richard Hey /-ky und Fred Breinersdorfers Stuttgart, eingeschoben ein Exkurs zu Tendenzen im schwedischen Kriminalroman, wobei hier Sjöwall/Wahlöö gemeint sind. Der Titel „Neue Varianten der Ortsgestaltung“ spannt Doris Gercke, Bernhard Schlink, Jacques Berndorf und Georg Klein zusammen und unterbricht mit einem weiteren Abstecher nach Schweden – diesfalls zu Henning Mankell -, und einem Exkurs zu „Englischsprachiger Literatur mit Schauplatz Italien“, natürlich Donna Leon und Magdalen Nabb.

Melanie Wigbers ist die strukturelle Inkompabilität ihres Textkorpus durchaus bewußt. „Es ging dabei nicht nur darum, eine Entwicklung des Genres zu zeigen; auch die Vielfalt der Raumgestaltungen und ihrer Funktionen sollte an den ausgewählten Erzählungen verdeutlicht werden“ (S. 130), ist dem Resumee zur Zeitspanne 1900 bis 1965 zu entnehmen. Das ist ein hilfloser Versuch, zu retten, was nicht zu retten ist, und manchmal versucht die Autorin auch die Krimigeschichte im Dienste ihrer Thesen neu zu schreiben: „Eine wesentliche Veränderung der Ortsdarstellungen und ihrer Funktionen ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass der Detektiv in den Texten nach 1900 zu einem zunehmend wichtigen Moment des Kriminalromans wird.“ Dagegen würden sich Edgar Allan Poe (der nicht erwähnt wird) oder Arthur Conan Doyle doch heftig wehren und der ganze Traditionsstrang würde sich erübrigen, mit dem Krimiautorinnen seit den 1920er Jahren gegen das alleswissende Denkgenie des Detektivs der Krimigeburtsstunde angeschrieben haben – allen voran Agatha Christie mit ihrer Miss Marple.

„Die in diesem Kapitel untersuchten Texte sind in ihrer Ortsgestaltung merklich inhomogener als die zuvor betrachteten Kriminalromane der späten 60er bis frühen 80er Jahre“ – das mag ein richtiges Urteil sein, sagt aber nichts Prinzipielles aus, sondern allenfalls etwas über die von der Autorin im letzten Abschnitt ausgewählten Beispiele. Bedauerlich ist hier auch, dass Wigbers die sozialkritische und feministische Grundierung bei Doris Gercke nicht zu lesen versteht. Sie spricht Gerckes Kommissarin Bella Block kurzerhand ab, dass sie „detektivische Recherche im engeren Sinne“ leiste, weil sie sich „als Erstes die Frage stellt, was sie über das Dorf weiß … Bellas Interesse konzentriert sich nicht auf die betroffenen einzelnen Figuren oder ihr engeres soziales Umfeld; sie versucht nicht den möglichen Verlauf der beiden Morde zu rekonstruieren und in keiner Weise interessiert sie sich für die speziellen Tatorte.“ (S. 179) Wenn man nicht versteht, das als bewußtes Programm zu sehen, das die Geschichte des Genres mittransportiert, kann man tatsächlich zum Urteil kommen, Gercke setze „nahezu ausschließlich auf die voyeuristische Freude des Lesers an grauenerregenden Darstellungen“. Und dann sollte man wirklich keine (Gercke)Krimis mehr lesen.

Melanie Wigbers Krimi-Orte im Wandel
Gestaltung und Funktionen der Handlungsschauplätze in Kriminalerzählungen von der Romantik bis in die Gegenwart.
Würzburg: Königshausen & Neumann, 2006.
264 S.; brosch.
ISBN 3-8260-3368-X.

Rezension vom 05.09.2006

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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