#Roman
#Prosa

(Krieg und Welt)

Peter Waterhouse

// Rezension von Martin Kubaczek

Der Text beginnt wie Eichendorff: Da geht einer weg, der sieht ein Lied in allen Dingen, der wandert los, geht fort im Gegensatz zum väterlichen Prinzip. Zetert der Vater und ringt die Hände dort, so gibt es in (Krieg und Welt) ein väterliches Schweigen und einen Zorn, der unerklärlich und unerklärt bleibt. Aber der Waterhouse’sche Text antwortet an verschiedener und doch immer entschiedener Stelle (nämlich hinterrücks, unauffällig und leise), irgendwo im Unterwegs der Sprache, im Unterwegs des gedanklichen Weltumfangs und der bedrohlichen, nachforschenden Geheimgänge durch die Gedanken- und Sprachformen des Kriegs: Nein, ein Tagebuch habe er nicht geführt, habe der Vater geantwortet, Tagebuchschreiben täten nur die Schriftsteller; und damit ist die Sache erledigt, schroff der Ton des Vaters, der das Prinzip Aufschreibung und Reflexion ablehnt, der oft für Monate, ja wie für immer verschwindet und zurückkehrend nichts erzählt, ein Vater, der schweigt, aber Bericht geben muss bei den von ihm gefürchteten „Interviews“, zurück in London an seiner (Geheim-) Dienststelle. Wo er, der schon als Kind nicht wusste, was sagen, plötzlich sprechen muss. Spricht. Gerügt wird. Aber nichts aufschreibt.

Der Sohn schreibt auf. Er übersetzt, versucht auch die Stummheit des Vaters in eine Form von Verstehen zu setzen, ist eindringlich, respektiert aber die Erzähl-Verweigerung des Vaters. Der Sohn stellt die Opposition nicht her. Er verweigert oder widerspricht nicht. Er ist in keiner Rebellion. Er ist bloß in einem ratlosen und rastlosen Verstehensversuch. Und welcher Roman, welcher Text, welcher Essay, welches literarische, sprachliche, philosophische Werk besteht zu zwei Dritteln aus Fragesätzen? Rhetorischen Fragen, gut, aber alles hier ist Fragezeichen und proklamiertes Bekenntnis zur Unsicherheit, Destabilisierung, Frage- und Infragestellung aller fest gefügten Anschauungen und Formen – und entwickelt dabei seine genuine, unvergleichliche und neue.

Das ist wohl das wesentlichste formale Element, das auf den ersten Blick auffällt: die Frageform des gesamten Textes. Sein Movens ist die Frage nach der Anwesenheit und Abwesenheit, die auch eine Frage nach den Grenzziehungen ist, den inneren, den emotionellen, den medialen und den gewalttätigen Grenzziehungen der Macht und ihrer Geschichte, die zugleich ihre Gegengeschichte von Unterwanderungen und Überschreitungen hat (auch das Wort „Unterschreitungen“ wird durchgespielt), vor allem aber eine Form der Durchlässigkeit ist; dies ein für Waterhouse wesentlicher Begriff: Keine Sprache ist undurchlässig, keine Sprache ist Grenze, die nicht überschreitbar wäre, so wenig wie dies eine politische Grenzziehung wie der Eiserne Vorhang war, diese Bühne des gesamteuropäischen, des zweiweltlichen – nicht zwischenweltlichen – Geschehens. Diese Haltungen der Konfrontation werden im Textfluss beständig hinterfragt, perforiert, durchlässig gemacht.

Indem er schweigt, verweigert sich der Vater diesen Machtdiskursen, ist er auf der Seite des Friedenssuchenden, ist Pazifist. Als Kind mit diesem Schweigen konfrontiert, versteht der Erzähler sie als Intention, die nicht Ausdruck ist, die sich nicht erklärt. Die Stille verbindet, weil sie als Nichtsprechen erklärbar wird: Hier beginnt das Deuten, das Interpretieren, das der Erzähler-Sohn vom Geheimdienstvater übernimmt und beschreibt: Wie es abläuft, in welcher Funktion, von welcher Voraussetzung, von welcher Lesbarkeit es durchsetzt ist, ja pulsiert. Wie das Schweigen lebt: das ist eine andere Form der Todesmetapher, der hier mit Lebensmetaphern widersprochen wird.

Die Endgültigkeit des Todes ist die eigentliche Grenze, die der Text durchbricht, unterwandert, mit jeder Strophe, mit jeder Zeile seines Erzählens, dessen akribische Recherchen langsam dieses Gebäude der Erinnerungen durchdringen, oder die Landschaften: Marchfeld, Drautal, Trient, Malaysia, oder Suffolk, woher der Vater stammt, wo er aber nicht zugehörig sein will, nirgendwo wollte er zugehörig sein, daheim war er, der Vielsprachige, nicht in den Sprachen, sondern in der Stummheit, die in den Sprachen ist als ein Hinhören.

Eingebettet ist diese Vatergeschichte in den Kontext des Sterbens der Frau des Erzählers, der nun mit den Kindern allein zurückbleibt; ein anderes Schweigen, eine andere Unerreichbarkeit, eine andere Grenzziehung wird hier sichtbar, und die Notwendigkeit einer anderen Form der „Übersetzung“, vom Leben ins Tote und wieder zurück, in der Dauer einer Präsenz, die nicht verstofflichbar ist, nicht greifbar und medial sichtbar sein kann; aber das Wesen ausmacht und das Wesentliche ist; schmerzlich und berückend, wie dies der untröstlichen kleinen Tochter an Nöstlingers Geschichte vom „Gurkenkönig“ erkennbar wird. (S. 252ff) Hier entfaltet der Text seine Momente großer Intimität, und eine selbstverständliche und voraussetzungslose Liebe und Hingabe wird sichtbar in der Trauerarbeit des Erzählers mit seinen Kindern.

Wenn man an die hier skizzierten Themen denkt, mag es überraschen zu sehen, wie verspielt und vergnügt der Autor manchmal unterwegs ist in seiner Sprachlust und Sprachwirklichkeit. Waterhouse verfügt über alle Töne von Spott, Witz, sprachlichem Klamauk und Ironie, die helfen, auch die eigenen Ansprüche zu relativieren. Hier gibt es keine drohenden Zeigefinger und negativen Vorhersagen, aber eindringlich und unnachgiebig die entlarvenden Fragestellungen als Angebote eines völlig anderen Denkens, das immer wieder seine Überzeugung darin findet, dass man nicht gewinnen will und muss. Das Buch ist grundiert von Haltungen, die in ihrer Ethik eines „ungesicherten Schauens“ (S. 478) und ihrem Verständnis wohl kaum vordringen in jene Etagen der Entscheidungen, in denen Weltpolitik gemacht wird. Insofern ist es auch köstlich, wenn Waterhouse einem der 20 Kapitel, die jeweils mit einem Motto versehen sind, ein bekanntes und berüchtigtes Zitat Donald Rumsfelds voranstellt, in dem sich entlarvt, auf welcher gedanklichen Basis hier Entscheidungen gefällt wurden und werden. (S. 82)

Es ist eigenartig, wenn das Verschwindende und das Winzige gesucht werden in einer solch monumental angelegten Form. Und doch ist dieses Erzählen zugleich stofflich leicht und durchsichtig, luzide in seiner Flüchtigkeit, oft auch in seiner Redundanz, die nicht im Wiederholen, sondern im Herumirren besteht, im tastenden Suchen und Versuchen, in einem immer wieder Ansetzen und Beginnen. Jeder zweite Satz ist ein Anfangssatz, keiner löst das Vergangene so richtig ein. Anschauung und sinnliche Erfahrung treten an die Stelle einer instrumentellen Vernunfterklärung, „Ich ließ mich fallen in den Genuß der Nacht, gusto della notte, in den Geschmack der Nacht (…), ich vergaß die Welt.“ (S. 244)

Die Kritik tut sich schwer, dieses Buch wie gewohnt zu erfassen. Thema dieses Romans, der sich dagegen wehrt, ein Thema zu haben oder ein Thema zu sein, sei seine Themenlosigkeit. Sei der Vater. Sei der Tod der jungen Frau. Sei die Sprache. Der Titel, dieser sensationell in Klammer gesetzte Titel, drücke alles und nichts aus. Novalis und „Privatgemurmel“, heißt es in der „Zeit“. Das Buch lasse sich keiner Gattung zuordnen. Es sei ein Antibuch (so Cornelia Jentzsch im „Deutschen Radio“). Dabei ist nichts, was Waterhouse hier schreibt, thematisch oder formal neu, im Gegenteil, es ist eine Kulmination aller bisher entwickelten Verfahren, die Waterhouse seit seiner ersten Veröffentlichung mit den Menz-Gedichten 1984 in über zwei Jahrzehnten entwickelt hat als eine Verschmelzung von poetischem Fragen, lyrischem Moment, Übersetzungsdeutung und erzählerischer Reflexion.

(Krieg und Welt) ist insofern ein komplexer Text über Kindheit und Tod, über das Autoritäre und die Gewalt in und durch Sprache, über die Grenzziehungen der Medien und der Macht, und es ist ein Buch über Abschiede und über Verbundenheit. Vor allem aber ist es ein Buch über die Innigkeit, über die Sinnlichkeit der Wahrnehmung und die Lust am Beschreiben und das Aufblühen der sprachlichen Vorstellungskraft. Es ist ein Entwicklungs-, Bildungs- und Familienroman, ein Roman über Sprachkraft und Sprachvertrauen, das Magische der Sprache, es ist ein Liebesroman, sowohl zum Vater wie zur Frau, und es ist ein Roman des Abschieds und des Verlusts dieser beiden Menschen; die dadurch aber gedanklich umso gegenwärtiger werden.

Waterhouse folgt gerne den assoziativen Strömungen ebenso wie den „carrying streams“ (so eine Kapitelüberschrift) von Sprachfluss und Erinnerung; wiederholt und kreiselt um eine Fragestellung, auf der Suche nach dem adäquaten Begriff und freut sich über solche Momente der Übersetzung von Empfindung in Sprache, von Sprache in Empfindung. Man könnte Dutzende von wunderbaren Formulierungen in diesem enormen Text finden, in denen die oft nur paradox formulierbare Grundidee verbildlicht wird, an der dieses Buch arbeitet: Belassen, um zu verändern, nicht entscheiden als Entscheidung, Verzicht als Gewinn, verbinden durch die Kraft loszulassen. Der Text verbildlicht das etwa in der Szene, in der die Passagiere eines Ozeandampfers beim langsamen Ablegen den Zurückbleibenden am Kai lange Papierschlangen zuwerfen, die diese fangen und festhalten, bis das abfahrende Schiff sie zerreißt. Es ist eines von diesen bunten Papierbändern, ihm zugeworfen, das der Erzähler, als Kind in Malaysia, loslässt, um es nicht zerreißen zu lassen – und dabei erkennt, dass dieses Freigeben die Voraussetzung für jede fortdauernde Verbindung ist.

(Krieg und Welt).
Salzburg, Wien: Jung und Jung Verlag, 2006.
671 Seiten, gebunden.
ISBN 3-902497-13-0.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 12.04.2007

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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