#Roman

Kopfzecke

Iris Blauensteiner

// Rezension von Walter Wagner

Die Filmemacherin und Autorin Iris Blauensteiner hat mit Kopfzecke ihren Erstlingsroman vorgelegt, in dem sie die Beziehung zwischen einer am Lebensende angelangten demenzkranken Frau und ihrer Tochter thematisiert. Erzählt wird die Handlung aus der Perspektive der Protagonistin Moni, die sich neben ihrem anstrengenden Beruf als Cutterin aufopfernd um ihre Mutter kümmert. Während sich die alte Frau in ihrer letzten Lebensphase mehr und mehr in ihre für Außenstehende unverständliche Kopfwelt zurückzieht, taucht Moni immer tiefer in die Familienbiografie ein und beginnt dabei, nicht nur die Kranke, sondern auch sich selbst besser zu verstehen.

Gekonnt inszeniert die Autorin den geistigen und körperlichen Niedergang der alten Dame, den sie in stenografisch knappen Sätzen vermittelt, ohne auf das glatte Terrain der Rührseligkeit abzugleiten. Sachlich und unaufgeregt wird etwa der Einsatz des Pflegepersonals notiert, das die Tochter bei der häuslichen Pflege entlastet. Ein Friedhofsbesuch im Rollstuhl, ein Krankenhausaufenthalt, der nötig wird, weil sich die Mutter das Bein gebrochen hat, aber auch die bizarr anmutenden Dialoge der beiden Frauen werden detailreich dokumentiert und geben Einblick in die vielfältigen Probleme häuslicher Pflege.

Neben den alltäglichen Belastungen, welche die einzige Tochter aufgrund des zunehmenden Verfalls der Mutter treffen, werden vergangene Ereignisse anekdotisch ans Licht gebracht. So erfährt der Leser, dass die Mutter im Zweiten Weltkrieg von einem deutschen Soldaten vergewaltigt wurde und leidenschaftlich für einen Russen namens Jegor entbrannte, der wieder in seine Heimat zurückkehrte und ihre einzige Liebe bleiben sollte. Die Dorfbewohner straften das nonkonforme Verhalten gemäß ihrem patriarchalen Verhaltenskodex mit sozialer Ächtung – ein Stigma, das die Gefühlswelt der Frau dauerhaft prägte.
Vom Vater ihrer Tochter, den die Mutter nach dem Krieg kennen lernt, trennt sie sich wieder, um sich künftig auf keinen Mann mehr einzulassen. Dem Mädchen aber schärft sie ein, vor dem anderen Geschlecht auf der Hut zu sein, und gibt damit das mütterliche Trauma als familiäre Altlast an Moni weiter. Diese hat eine Scheidung hinter sich, bleibt kinderlos und entwickelt Bindungsängste, die ihr Partner geduldig annimmt, bis die Protagonistin durch den Tod der Mutter frei wird und seine Zuwendung anzunehmen wagt.

In Blauensteiners Roman werden sich gerade jene Leser wiedererkennen, die selbst Anverwandte pflegen oder gepflegt haben und die damit verbundenen Schwierigkeiten aus erster Hand kennen. Der Eigensinn alter Menschen und ihre Revolte gegen den nicht aufzuhaltenden Verlust ihrer Eigenständigkeit sind ebenso überzeugend dargestellt wie die innere Zerrissenheit der Angehörigen, die zwischen den beruflichen Anforderungen, den eigenen Bedürfnissen und der pflichtschuldigen Zuwendung zur gebrechlich gewordenen Person eine Balance zu halten sucht. Moni und ihre Mutter Erika personifizieren auf paradigmatische Weise diese prekäre familiäre Konstellation, die nicht nur in die Überforderung der Jüngeren mündet, sondern auch als Periode intensiven Austausches eine ungeahnte Annäherung zwischen den Generationen ermöglicht. Indem Moni Kindheitserinnerungen Revue passieren lässt und alte Schwarzweißfotografien einer neuerlichen Prüfung unterzieht, gelingt es ihr, der Vergangenheit auf die Spur zu kommen. Und dies, obwohl sich die Mutter hinter der Mauer der Demenz verschanzt: „Sie würde die immer gleichen Fragen stellen, damit ich mich mit ihr beschäftige. Sie würde manche meiner Wörter wiederholen. Sie würde verärgert bemerken, dass ihr Hirn und ihr Sprechen nachlassen. Sie würde selten etwas Neues in Erinnerung behalten.“

Kopfzecke schildert gekonnt, was geschieht, wenn die Rollen vertauscht und Eltern wieder Kinder werden. Besonders berührend in dieser Geschichte ist die Konfrontation der Tochter mit der toten Mutter, die in schlichten, überaus dichten Bildern dargestellt wird, wodurch das Unsagbare letztlich eine sprachliche und literarische Bändigung erfährt. Beim Lesen dieses kurzen Kapitels, das wie Camus‘ Fremder mit den Worten „MEINE MUTTER IST GESTORBEN“ einsetzt, kommt die existenzielle Wucht des Todes als unausweichliche Realität schmerzlich zu Bewusstsein. Als die Entrümpler schließlich die Wohnung der Toten räumen wird klar, dass außer ein paar Erinnerungsstücken und dem begrenzten Gedenken der Überlebenden nichts von der ganzen Fülle menschlichen Daseins die Zeit überdauern wird. Dieser Einsicht möchte man ausweichen, aber Blauensteiners Roman lässt bequeme Fluchten nicht zu.
So viel Ernst und Luzidität traut man einer jungen Autorin nicht zu: Wie schön, dass dieser anspruchsvolle Debütroman nicht in die Gefälligkeitsfalle mittelmäßiger Belletristik tappt!

Iris Blauensteiner Kopfzecke
Roman.
Wien: Kremayr & Scheriau, 2016.
176 S., geb.
ISBN 978-3-218-01044-3.

Rezension vom 29.08.2016

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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