#Prosa

Kopfüber an einem Baum

Anne Marie Pircher

// Rezension von Beatrice Simonsen

Kopfüber an einem Baum sieht die Welt anders aus. Die Veränderung der Perspektive ist der Motor für die 14 Erzählungen der Südtiroler Autorin Anne Marie Pircher. Der Platz zwischen Himmel und Erde läßt die Gedanken oft in eine surreale Welt hinübergleiten, die die irdische Betrachtungsweise unterstützt und überflügelt. Hat die Autorin im Jahr 2000 ihren ersten Anlauf in die Literatur mit Kurztexten und Fotografien noch „Bloßfüßig“ unternommen, so trägt sie jetzt Flügelschuhe.

Für die vorliegenden Erzählungen in Kopfüber an einem Baum wählt sie durchgehend die Ich-Perspektive, wobei das „Ich“ bisweilen ganz unverhohlen „Anna“ genannt wird. Insgesamt geht es um persönliche und räumliche Standortdefinitionen.

„Schattenlauf“ heißt die Schlüsselerzählung, in der die Veränderung der Perspektive eine innere Entwicklung möglich macht. Die Ich-Erzählerin verläßt von ihrem Schatten getrieben einen Turm: „Ich halte inne, während mein Schatten an mir vorbei aus dem dunklen Turm in eine helle Fläche tritt. Zögere einen Moment und schaue noch einmal zurück, den langen Turm hinauf zur Plattform, die nur noch ein winziger Punkt ist. Die vielen Jahre meines Frühlings auf einen Punkt gebracht.“ Endlich im Freien, in der Freiheit angekommen, lauscht sie mit Erstaunen „den Erzählungen meines Schattens, während der Sommer über mich hereinbricht.“ Dieses Thema des Standortwechsels und damit Zusichfindens wiederholt sich in mehreren Erzählungen.

Veränderungen der Perspektive ergeben sich weiters durch die wechselnden Rollen der Ich-Erzählerin in der Gesellschaft – Mädchen, Geliebte, Frau, Ehefrau, Mutter. In diesem Zusammenhang erhebt sich die Frage nach Status und Qualität der jeweils übernommenen Rolle. Der Weg vom jungen unbestimmten Mädchen zur selbstbewussten Frau und Mutter ist weit und von Rückschlägen gezeichnet. Dies zeigt etwa die sensible Erzählung „Gorilla“, in der die konkrete Angst der Mutter um ihre verlorene Tochter in eine kafkaeske Irrealität umschlägt. Von der scheinbaren Sicherheit der Männerwelt eingelullt, entfernt sie sich von ihrer Identität als Mutter. Männer haben keinen Zugang zur Welt der Mädchen und Mütter – die Perspektive des „kopfüber an einem Baum“ ist ihnen fremd – und dennoch dominieren sie rücksichtslos deren Leben.

Hier wie in „Das dritte Kind“ mischt die Autorin surreale Elemente in die konkrete Situation, um unaussprechliche Angst in Worte zu fassen. Pirchers Stärke liegt in der Beschreibung von Szenen, die das Geschehen in Unfassbarkeit kippen lassen. Gefühle, die nicht genannt werden dürfen, treten überdeutlich hervor.

Anne Marie Pircher wurde 1964 in Kuens bei Meran geboren. Das Dorf ist Schauplatz ihres Schreibens. Die Auseinandersetzung mit diesem Ort findet in konzentrischen Kreisen statt, deren Mittelpunkt die Ich-Erzählerin ist. Das Dorf ist die direkte Umgebung, bedeutet Enge und Schutz zugleich, ist Einschränkung einerseits und bietet Wurzeln andererseits. Reisen in fremde Länder bringen vorübergehend die ersehnte Freiheit, Anregung und Ausbruch aus Starrheit und Konvention.

Die wirkliche, innere Freiheit muss zu Hause erkämpft werden, das gibt uns die Ich-Erzählerin schon in ihrer Eingangserzählung „Zwischen den Dörfern“ mit auf den Weg. „Ich bin also in Sibirien groß geworden, und man kann sich vorstellen, mit welch träumerischen und überschwänglichen Fantasien man sich dort den Süden erdenkt. Ich habe stets von einer Zukunft am blauen, weiten Meer geträumt. … Wenn ich heute vom Dorf hinüber schaue auf die andere Talseite nach Sibirien, ist mir nicht ganz klar, warum ich den Weg in den Süden später niemals gefunden habe. Ich kann es mir nur dadurch erklären, dass meine Liebe zu Wölfin stärker gewesen sein muss als meine Liebe zum Süden. Wie sonst wäre es mir gelungen, einfach nur die Talseite zu wechseln…“. „Sibirien“ symbolisiert die Rauheit und Einsamkeit zwischen den Dörfern, wo die „Wölfin“ die ersehnte und notwendige Kraft verkörpert. Das Klischee vom freieren Leben im Süden hat sie für sich als nicht notwendig wahr erkannt. Es genügt bereits eine kleine Veränderung – der Wechsel der Talseite -, um den Blick zu schärfen und damit die eigene Position zu stärken.

Freilich gelingt das nicht immer und die Entfernung vom Dorf wird in der nahegelegenen Stadt gesucht, um den eigenen Standpunkt zu überprüfen („Zihuatenejo“, „Das fünfte Element“). Die Heimat ist eng, denn außerhalb von Südtirol ist Fremdland („Gorilla“). Italien ist der Prüfstein für die eigene Identität, vor allem an der Sprache scheidet sich das Heimatgefühl, was für Südtiroler AutorInnen im allgemeinen zutrifft („Anders“).

Anne Marie Pircher weiß wohin sie gehört, sie hat ihren Platz gefunden. Und wenn alles gut geht, „kopfüber an einem Baum“, dann setzt sie der Realität eine surreale Dimension auf oder taucht umgekehrt ganz konkret in fremde Welten („Der Taucher“, „Der Furchenmann“). Dann nützt sie voll Witz und Verve ein vorgegebenes Vokabular, verschiebt listig den Blickwinkel und entlarvt die Konvention (siehe die Leseprobe aus „Marktszenario“). Nur jene Erzählungen, die am heimatlichen Boden kleben, die ganz der Realität verhaftet bleiben, in denen die Distanzierung fehlt, zeigen Schwäche („Ein bisschen“, „Erwischt“, „Die Einladung“).

Insgesamt weist Anne Marie Pircher ein breites Spektrum an verschiedenen „Ichs“ auf, wechselvoll zwischen Verlorenheit und Identitätsfindung, zwischen Verunsicherung und Standhaftigkeit, Hingabe und Selbstbestimmung. Es sind Erzählungen einer selbstbewussten Identitätssuche.

Anne Marie Pircher Kopfüber an einem Baum
Erzählungen.
Innsbruck: Skarabaeus, 2003.
135 S.; brosch.
ISBN 3-7082-3126-0.

Rezension vom 10.12.2003

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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