#Roman

Kopf über Wasser

Wolfgang Millendorfer

// Rezension von Marcus Neuert

Es gibt diese Hallenbäder, die den Charme vergangener Epochen in unsere Zeit hinübergerettet zu haben scheinen, aus der Gründerzeit oder dem Jugendstil, und die in unserem weitgehend schmucklosen 21. Jahrhundert gleichsam wie rematerialisierte Traumwelten für schwelgende Nostalgiker wirken wie etwa das Amalien- oder das Jörgerbad in Wien oder die Gellert-Therme in Budapest. Und es ist durchaus vorstellbar, in und um so einen Ort eine Romanhandlung zu konzipieren.

Was der Autor und Journalist Wolfgang Millendorfer, der unter anderem auch mit literarisch-kabarettistischen Programmen seit anderthalb Jahrzehnten auf heimischen Bühnen unterwegs ist, mit seinem Werk „Kopf über Wasser“ in diesem Herbst bei Milena veröffentlicht hat, atmet freilich nichts vom Geist dieser architektonischen Vorzeigetempel. Die Handlung seines mit dem Attribut Hallenbad-Roman untertitelten Buches, zeitlich im Jahr 2001 spielend, kreist vielmehr um den Mikrokosmos eines schlichten und sowohl optisch als auch funktional deutlich an sein nahendes Nutzungsende gekommenen Zweckbaus aus den frühen 1970er Jahren. Der Betonklotz hat mehr und mehr mit ausbleibenden Gästen und einer Lokalpolitik zu kämpfen, die sich vorstellen kann, auf dem städtischen Gelände langsam aber sicher einmal etwas Rentableres als ein solch abgehalftertes Freizeitzentrum zu betreiben. Hofrat Spreitzer und sein allgegenwärtiger und willfähriger Schatten namens Kaufmann haben da jedenfalls hochfliegende Pläne von florierenden Einkaufszentren und schmucken Wohnhäusern mit sattem Renditeabwurf, vor allem auch für sie selbst, im Blick.

Werner und Maria Antl hingegen, das Betreiberehepaar, das seit 1986 mit Herzblut an dem inzwischen etwas bröckeligen Kasten hängt, will unbedingt das dreißigjährige Jubiläum des Bades feiern, und mit ihnen das ganze leicht abgedrehte und schrullige Personal: die Antl-Tochter Rose, die mit fast dreißig den Absprung aus dem Elternhaus verpasst hat und für den Kassenbetrieb und das Büro zuständig ist; Fred, der als Bademeister und verhinderte Stimmungskanone fungiert; András, der Haustechniker, der stets auf Kriegsfuß mit der eigenwilligen Heizungsanlage des Bades steht und in der Sauna mit versteckter Kamera heimlich Aufnahmen von den Gästen macht; Robert Anker, als Saunameister eine Institution in Sachen flotte Sprüche und Aufgüsse aller Art; Bella, die ehrfurchtgebietende Hallenbad-Kantinenwirtin, die ihre handverlesenen Daueralkoholiker gewöhnlich ebenso gut im Griff hat wie ihr etwas verhuschtes Personal, die nicht mehr ganz taufrische Kellnerin Susi und den in sie verschossenen Koch Willi, der als „vom wöchentlichen Menüplan schwer unterfordert“ geschildert wird; und nicht zuletzt Herbert Peter, seines Zeichens Nachtwächter, über dessen Tätigkeit es heißt: „Obwohl die Gefahr nächtlicher Badegäste äußerst gering ist, schreibt die Stadt diesen Posten vor – nur weil einmal etwas passiert ist.“

Zu diesen quasi betriebseigenen Charakteren nebst Hofrat Spreitzer und seiner Entourage gesellen sich noch ein „alter Nazi“ namens Hermann, dem Ordnung am und im Becken über alles geht, die beiden leberzirrhotischen Kampftrinker Georg und Grant, ihres Zeichens Bellas beste Gäste, der Lokalblattredakteur Pichler, der nicht zu Unrecht angesichts der örtlichen Machenschaften um das Bad eine gute Story wittert sowie Inspektor Wels und seine Kollegin Fritz, die einen folgenschweren Kantinenunfall und -brand aufzuklären haben, bei denen es sich in Wahrheit um eskalierte Auseinandersetzungen zwischen Thekenpersonal und Gästen bzw. aus den Fugen geratene nächtliche Kostümfeste handelt. Damit nicht genug, stiften plötzlich wie aus dem Nichts auftauchende und wieder verschwindende Badegäste Verwirrung: Werner Antl, der sein feuchtes Fliesenimperium reich mit Überwachungskameras ausgestattet hat, die er vom Büro aus leidenschaftlich beobachtet, glaubt bald an Gespenster. Und irgendwie hat das Ganze auch noch mit einem geheimnisvollen Garderobenkasten zu tun, der sich seit Jahrzehnten nicht mehr öffnen lässt, weil der Schlüssel dazu verschwunden ist, und aus dem mitunter merkwürdige Geräusche nach außen dringen. Welche Parallelwelt mag sich dahinter verbergen? Dass der Spreitzer-Adlatus Kaufmann und die Antl-Tochter Rose ein Techtelmechtel miteinander haben und die Polizistin Fritz heimlich in ihren Partner Wels verknallt ist, trägt sowenig zur Klärung dringend zu enträtselnder Sachverhalte bei wie die Vertuschung dunkler Geheimnisse aus der Bauphase des Hallenbades.

Millendorfer rührt hier also den ganz großen Cocktail an, in welchem sich durchaus Wortwitz und detailverliebter Retrocharme süffig durchmischen, auch wenn eine gewisse Straffung der Handlung und manchmal etwas weniger überspannte Dialoge zu einer wirklich bekömmlichen Mixtur beigetragen hätten. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Autor insgeheim am liebsten das Drehbuch für eine kleine, aber feine Soap-Serie geschrieben hätte: gleich zu Beginn charakterisiert er das Schwimmbadpersonal im Stil einer Dramatis Personae, wie sie Rollentexten vorangestellt wird, seine Großkapitel heißen dazu passend „Episoden“, sieben an der Zahl, und die Perspektiven springen zwischen den Figuren hin und her wie Kameraeinstellungen. Das vermittelt eine gewisse Rasanz, obwohl über weite Strecken gar nicht wirklich viel geschieht.

Wie sich das Ganze dann auflöst, sei hier nicht verraten – das große Finale mit vorläufigem Happy End bleibt jedoch natürlich nicht aus, letztlich wenig überraschend, aber auch offen genug für eine potenzielle Fortsetzung:

„Das Hallenbad wird stehen bleiben. Wie in den vergangenen 29 Jahren wird auch heute Nacht das Wasser unaufhörlich über den Rand des Beckens rinnen und in den namenlosen Zwischenraum unterhalb des weißen Plastikgitters gesaugt werden. Und dann, in fünfeinhalb Stunden, wird ein neuer Badetag beginnen. Muss er ja.“

Und das mit der kleinen Fernsehserie ist gewiss auch noch nicht vom Tisch.

Wolfgang Millendorfer Kopf über Wasser
Der Hallenbad-Roman.
Wien: Milena, 2021.
304 S.; geb.
ISBN 978-3-903184-78-7.

Rezension vom 08.11.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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