#Prosa

Konstruktion einer Stadt

Wolfgang Hermann

// Rezension von Martina Wunderer

Die Stadt, zu einem Klumpen geronnen, ununterscheidbar.
Wolfgang Hermanns literarische Stadt-Texte entstanden, als Berlin noch „ein ummauertes, gefesseltes Tier war. Wenn man die Augen schloss, konnte man sein trauriges Knurren hören.“

Dieses Knurren geht heute, zwanzig Jahre später, im stampfenden Bass der Elektromusik unter, im Rauschen des emsigen Kulturbetriebs der Stadt, im babylonischen Stimmengewirr der Wahlberliner aus allen Ecken Europas, ach was, der Welt. Und doch atmet die Stadt im Morgengrauen, wenn man zu Fuß entlang des ehemaligen Mauerstreifens an der Bernauer Straße wandert, noch dieselbe Beklommenheit, dieselbe Einsamkeit der „kühlen, leeren Orte“, wie sie Hermann in seinen Prosaskizzen beschreibt. Denn „die Zeit heilte nicht die Wunden, aber sie rückte Menschen und Dinge an andere, unversehrte Orte: Schauplätze.“ Abseits dieser neuen Schauplätze des jungen Berlin finden sich noch immer steinerne Mauerreste, gespenstisch leere, brachliegende Flächen inmitten der Stadt, bröckelnde, von Einschusslöchern durchsetzte Wände in verborgenen Hinterhöfen.

Berlin vor zwanzig Jahren. Ein „Dschungel“, ein Tierhaus, das erwacht. Ein sinnliches Erlebnis, das nie eindeutig und referentiell, sondern immer flüchtig und ambivalent bleibt. Dem namenlosen Ich-Erzähler begegnet die Stadt als Fremde, geheimnisvoll, unheimlich, gehüllt „in dichten Nebel“. Auf den Straßen „vermummte Gestalten, die eilig den Blicken entschwanden“. „Sie leben mit gestundetem Wissen, blind, taub, öffnen Türen ohne Sinn.“ Der Erzähler, ein Schriftsteller und als solcher berufsmäßiger Flaneur, „reiht sich ein in die Reihe der Stadtgespenster“, folgt ihnen in die Dunkelheit der „herbstlichen Metropole“. Er wandert durch endlose Straßenschluchten, bis hinaus in die Randzonen, „wo die Ferngläser des Wachpersonals des anderen Deutschlands warteten“. Von Morgens bis Abends, von Abends bis zum Morgengrauen promeniert er durch diese „Landschaft aus lauter Leben gebaut“, wie Hofmannsthal einmal über Paris sagte. Im Unterwegssein beginnt er die Stadt aufzusagen – Mittagslicht, Lesendes Kind, der Park, Zoo, der Fluss – er buchstabiert Wirklichkeit mit Worten, nennt Namen, protokolliert Gespräche, beschreibt Gesichter und „die Dunkelheit in den Augen eines jeden“.

Es ist ein Liebeswerben um die Stadt, ein unablässiges Bemühen, die Stadt zu erobern, ihrer habhaft zu werden, das ihn hinaus auf die Straßen treibt. Für die Sehenswürdigkeiten, die Geschichte, die Architektur interessiert sich der Erzähler wenig. Er will die Stadt als Ganzes erfassen, ein Wunsch, der sich nicht erfüllen lässt. Daher geht er den umgekehrten Weg: er zerlegt sie in unzählige Einzelbilder, in der Hoffnung, wenigstens in Augenblicken von der Stadt aufgenommen zu werden. Er versucht, inne zu halten, die Zeit still zu stellen, die flüchtigen Bewegungen in Sprachbilder zu bannen. Und doch scheitert er, verharrt auf der Schwelle, kommt nicht hinein, nach Berlin, kann sie nicht fassen, kann sie nur sagen. Die großstädtische Wahrnehmungsdisposition provoziert entsprechende Erzählstrategien – das Abweichen von einer erzähllogischen Struktur, die Zerschlagung der Syntax, die Reduzierung äußerer Handlung zugunsten einer losen Aneinanderreihung von Assoziationen, Eindrücken, Reflexionen und Erinnerungen.
Denn die Stadt ist keine banale Realität, es gibt sie nicht, es sei denn, in seiner Einbildung. Sie ist sein Traum, bereits durchtränkt von Bildern, bekannt „aus Filmen und Fotobänden“. Die Orte legen sich zueinander „wie bei einem Fächer die farbigen Muster“, geschaffen aus Einbildungen, Trugbildern, Legenden. Die Weltstadt als große Fremde, als „die großzügigste und anspruchsvollste, die verlockendste, die alles versprechende und nie zu habende Heimat. Die Hoffnung“, um es mit einem anderen Stadtautor, mit Paul Nizon zu sagen. Eine Verheißung von Freiheit und Unabhängigkeit, die nur um den Preis der Einsamkeit, der Nicht-Zugehörigkeit zu haben sind. Gewinnen, verlieren.

Sich dem Verschwindenden hinzugesellen und es so bewahren – so ließe sich die Aufgabe der tastenden Stadtkonstruktion Hermanns beschreiben. „Wenn ich an meine Berliner Winter denke, umschließt mich ein körperloses Grau, in dem nichts leichter fällt als sich zu verlieren,“ gesteht der Erzähler. „Was ich schrieb, waren wohl Protokolle des Verlusts“. Was er uns, die wir sie zwanzig Jahre später lesen, hinterließ, sind melancholisch schöne Prosaminiaturen über die Traumwirklichkeit Berlins.

Versuche.
Hohenems: Limbus, 2009.
111 S.; geb.
ISBN 978-3-902534-27-9.

Rezension vom 09.12.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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