#Roman

Knochenfische

Miriam H. Auer

// Rezension von Holger Englerth

„Eigentlich will ich nur eines: In Ruhe gelassen werden mit meinem Kind. In Ruhe gelassen. Endgültig“ (S. 64), murmelt Carl-Regen, einer aus dem vierköpfigen Ensemble des zweiten Romans von Miriam H. Auer. Aber in Ruhe gelassen wird da niemand. Stattdessen vollzieht sich in dem unruhigen, streckenweise beunruhigenden Buch eine Art Heilungsgeschichte in mehrfacher Ausführung. Denn was zu Beginn noch unerklärlich scheint, wird im Laufe des Romans unweigerlich seiner Auflösung entgegengeführt.

Dem Roman sind zwei Sätze vorangestellt: „Leben ist die Normalität. Leben ist der Wahnsinn.“ Beides trifft zu, aber was Normalität oder Wahnsinn ist, das entscheidet sich oft erst durch das Weiterlesen. Dafür, dass zunächst nicht alles klar sein darf, sorgt schon die anfängliche Erzählsituation: Eine alte Frau mit Namen Harper hat eine Frau und zwei Männer in ihrer Gewalt und unter Hypnose gesetzt, sie selbst gibt wieder, was ihr diese, unter Zwang gesetzt, erzählen, unterbrochen zusätzlich von Harpers eigenen Kommentaren und Anmerkungen. Die Erzählerin hält dann auch stolz fest: „Weil ich das Sagen habe.“ (S. 105) Erst langsam wird deutlich, mit welchem Aufwand diese Erzählsituation geschaffen wurde, hat Harper doch ihren eigenen Tod vorgespielt, um dann per Überwachungskameras das Leben der drei Menschen zu verfolgen. In einem zweiten Teil bleibt Harper am Wort, indem ihr Tagebuch wiedergegeben wird. Erst im dritten, abschließenden Teil wechselt die Erzählung zur jungen Frau, Tabitha Midair, deren gefährdete Existenz sie jedoch zu einer ebenso unsichereren Quelle macht wie die listenreiche Harper. Wenn unter diesen Umständen auch noch von einer der handelnden Personen direkt aus dem Alkoholrausch berichtet wird, dann entsteht ein für die Rezeption erwartbar hoher Schwierigkeitslevel.

Alle sind sie Verlorene in diesem Roman, und bei allen enthüllt sich erst langsam, was sie denn eigentlich verloren haben. Der Knacks, den die vier Hauptpersonen in sich tragen, hat in jedem Fall mit Kindern zu tun. Da der Rezensent in Hinblick auf tragische Kinderschicksale nah am Wasser gebaut ist, muss er gestehen, einige Male sehr durch das Buch berührt worden zu sein. In der Sprache deuten sich die jeweiligen Traumata jedenfalls schon lange vor ihrer Enthüllung an. Das Lesen wird auf diese Weise auch zum Ratespiel. Die Lösung ist in den meisten Fällen überraschend, wenn auch nicht immer zwingend. Manchmal wäre es für den Roman vielleicht besser gewesen, dem Geheimnis den Vorrang vor dem teils barocken Auserzählen zu geben. Im Buch wird die Fülle an Motiven und Wendungen zwar gerade noch zusammengehalten, aber – und ich nenne hier nur eine Auswahl – Selbstmord, Leihmutterschaft, Rassismus, Roboter, Kommune, Mund- und Fußmalerei, Ritzen, Kindesweglegung, zahme Füchse, Miniaturpferde, Lastwagenunfälle, Sternenkinderfotografie, Hügelgräber, Chemieunglück und nicht zuletzt ein rätselhafter, die Zeit beschleunigender Eisblock sind für 250 Seiten etwas mehr als genug. Auch dass Auer kaum ein mögliches Wortspiel auslässt, macht zwar ihre literarischen Möglichkeiten deutlich, ist für den Text aber nicht immer von Vorteil. Wenn z.B. der erste Ort der Handlung mit dem „Argen-Tal“ benannt wird, dann folgt schon im nächsten Satz das scheinbar unausweichliche Wortspiel: „Dort liege ich.“ (S. 21) Das Motiv des ‚im Argen liegen‘ wiederholt sich dann im Laufe des Romans noch mehrmals. Andererseits gelingen der Autorin an vielen Stellen präzise und knappe sprachliche Kunstwerke. So die folgende Kurzexposition eines Antiheimatromans: „Da sind Dörfer. Da sind Vorurteile. Das sind Traditionen. […] Die Menschen sind immer genau so, wie man sie gerade nicht haben will. Sie gehen einem auf die Nerven und nur selten ans Herz.“ (S. 17) Dass es sich hier nicht unbedingt gut leben lässt, ist klar, denn: „Im Argen ist der Horrorfilm auch Bildungsprogramm.“ (S. 32)

Harper als ehemalige Psychotherapeutin scheint das Mastermind hinter der Traumabewältigung der drei anderen Hauptpersonen zu sein, doch bald wird deutlich, dass sie selbst eine Bedürftige ist. Die Zusammenhänge klären sich, aus dem Akt der umfassenden Kontrolle entsteht eine unerwartete Gemeinschaft. Eine Figurenkonstellation, für die George Lucas mit Star Wars Pate gestanden haben könnte, erweist sich als tragfähig zur Lösung der anstehenden Probleme. Tristesse weicht einem verhaltenen Optimismus. Dass sich die anfängliche dystopische Endzeitstimmung im Roman in eine phantastische Utopie wandelt, unterscheidet den Roman „Knochenfische“ auch von anderen in diesem Jahr erschienenen Büchern, die SciFi-Elemente in ihre Gestaltung aufnehmen, wie z.B. Karin Peschkas „Autolyse Wien“ oder Doron Rabinovicis „Die Außerirdischen“.

Wenn es an einer Stelle im Roman heißt: „Künstliches ist wieder einmal tröstlicher“ (S. 232), dann verrät sich hier auch ein Stück seiner Poetik: Miriam H. Auer bietet eine gewagte Fülle von Einfällen und furiosen Wendungen, von Wortspielen und Bezugnahmen auf Musiktitel aus allen Richtungen, die zu Beginn in einer Trackliste ausgewiesen sind. Trotzdem ist ihr Roman oft dort am schönsten, wo es etwas leiser und ruhiger zugeht: Eines der schönsten Bilder steht hinter der Formulierung: „Staub auf der nächtlichen Iris.“ (S. 125) Denn es ist überraschenderweise nicht unbedingt ein Mensch, der in Miriam H. Auers Roman am meisten berührt.

Miriam H. Auer Knochenfische
Roman.
Klagenfurt/Celovec: Edition Meerauge im Verlag Johannes Heyn, 2017.
252 S.; geb.
ISBN 978-3-7084-0579-7.

Rezension vom 20.11.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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